Meinen letzten Newsletter des Jahres möchte ich wie immer dafür nutzen, euch allen entspannte Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr zu wünschen. Und weil wir am Heiligabend alle viel zu tun haben, gibt es jetzt ohne weitere Vorrede meine zehn Lieblingsalben des Jahres. Merry Xmas and Metal on!
10 Code Orange – The Above (29. September)
„The Above” hat die Musikwelt gespalten. Wieso ich das Album von Code Orange für extrem gelungen halte, habe ich bereits in meinem letzten regulären Newsletter geschrieben. Dass es am Ende sogar für meine Top 10 gereicht hat, liegt daran, dass mich viele Songs seit dem Release nicht mehr losgelassen haben: „Mirror“, „A Drone Opting Out Of The Hive”, „Circle Through“, „Take Shape”, oder „But A Dream…“ laufen bei mir seit Wochen in Dauerschleife. Code Orange ist mir ihrem vierten Album eine extrem unterhaltsame Neuinterpretation von Alternative und Nu Metal der 1990er gelungen.
9 Panopticon – The Rime of Memory (29. November)
Austin Lunn, der Mann, der hinter der US-amerikanischen Atmospheric-Black-Metal-Band Panopticon steht, ist in meinen Augen einer der bedeutendsten Metal-Musiker unserer Zeit. Seit er das Projekt 2007 gegründet hat, ist es ihm gelungen, einen Sound zu entwickeln, der einzigartig ist. Die Verbindung aus atmosphärischem Black Metal, wie wir ihn sonst vor allem aus Skandinavien kennen, mit Bluegrass- und Appalachian-Folk-Musik ist einmalig. Es ist aber nicht nur die Innovationskraft, die Panopticon so besonders macht, sondern auch die konstant hohe Qualität innerhalb ihrer Diskografie. Es gibt nicht viele Bands, die mit ihrem zehnten Album noch so einen Hype in der Szene auslösen können. Die Entwicklung, die Lunn seit der Veröffentlichung von „Kentucky“ 2012 genommen hat, ein Album was gemeinhin als moderner Metal-Klassiker gilt, ist enorm. Panopticons Sound wurde über die Jahre immer epischer und ausladender und findet auf „The Rime of Memory“ seinen vorläufigen Höhepunkt. Dabei dauert es zehn Minuten, bis wir überhaupt den ersten Metalriff zuhören bekommen. Davor baut Lunn gekonnt durch Akustikgitarren Spannung auf und zieht uns Hörende in die Winterlandschaften der Appalachen. Es ist aber nicht nur dieses unglaubliche Gespür für Stimmungen, die Panopticon so wunderbar macht, sondern auch die klare politische Haltung. Lunn geht es um den Kampf für Umweltschutz, gegen die Ausbeutung im modernen Kapitalismus und seine Rücksichtslosigkeit. Diese Themen verwebt er so eng mit seiner Musik, wie es kaum andere Künstler*innen können. In „Cedar Skeletons“ gibt es nicht nur Samples aus Nachrichtensendungen, die von Waldbränden berichten, er integriert in den Song auch ein Instrument (ich habe leider keine Ahnung, welches das genau ist, sorry!), das an die Flammen eines Brandes erinnert. Wenn „The Rime of Memory“ etwas früher im Jahr erschien wäre, wer weiß, ob es nicht noch weiter oben auf meiner Liste stünde. Denn man muss sich für das Album Zeit nehmen. Es funktioniert eigentlich nur in seiner Gesamtheit und ist mit siebzig Minuten auch nicht eben kurz. Aber wenn das das Schlechteste ist, was man über ein Album sagen kann, ist das Kompliment genug.
8 Haken – Fauna (3. März)
Die britischen Prog Metaller Haken haben sich mit „Fauna“ selbst übertroffen. Zum einen ist da das grandiose Konzept des Albums: Jeder Song nutzt eine Tiermetapher, um von menschlichen Emotionen zu erzählen. Eine metallische Fabelsammlung quasi. Und dann ist das Quintett auch so spielfreudig und experimentell wie seit Jahren nicht mehr. Sei es das Synth-Pop inspirierte „Alphabet of Me“, das rhythmusgetrieben „Taurus“ oder das epische „Elephants Never Forget“ – jeder Song hat seinen eigenen besonderen Spin und ist zugleich unverkennbar Haken. Dieser hohe Wiedererkennungswert liegt nicht zuletzt an der klaren, hohen und, verzeiht mir das Klischee, tatsächlich engelsgleichen Stimme von Ross Jennings, die auch auf „Fauna“ der Star der Show ist.
7 Mutoid Man – Mutants (28. Juli)
Kennt ihr das? Ihr seid mit euren Freund*innen in Bars oder Clubs unterwegs feiern. Der Abend fühlt sich eigentlich verdammt gut an, aber hinten in eurem Unterbewusstsein, lauert schon dieses Gefühl der Anspannung und Scham, das voll zuschlägt, wenn man am nächsten Morgen verkatert in seinem Bett aufwacht und sich daran erinnert, was man alles gemacht hat. Genau so fühlt sich „Mutants“ für mich an. Vordergründig ist die Mischung aus Sludge und Stoner Metal super unterhaltsam. Die Songs sind kurz, gehen direkt in die Vollen und laden dazu ein, sich im Takt zu bewegen. Hört man aber genauer hin, ist da auch immer eine Unruhe, eine Nervosität, die dem Sound von Mutoid Man innewohnt und unmissverständlich klarmacht: Der Spaß hält nicht ewig. Perfekt zusammengefasst wird das in einer Textzeile aus „Frozen Hearts“:
I don't wanna go anywhere right now // 'Cause I would probably do anything right now // Steal some drugs, sleep no more, fucking the ones I adore // Over the edge, watch it soar, me and all my hurt.
Noch ein kleiner Fun Fact am Rande: Seit ich diesen Newsletter schreibe, hat es Gitarrist und Sänger Steve Brodsky, der Kopf hinter Mutoid Man, in jede meiner Top 40 geschafft. 2022 war seine Stammband Cave In auf Platz 17 und 2021 hat er gemeinsam mit Converge und Chelsea Wolfe mit „Bloodmoon: I“ sogar mein Lieblingsalbum des Jahres veröffentlicht. Das nenne ich mal Kontinuität.
6 Ahab – The Coral Tombs (13. Januar)
Konzeptalben sind keine Seltenheit im Metal, aber es gibt wenige Bands, die ein konkretes Konzept so gut umsetzen können wie die Heidelberger von Ahab. Auf „The Coral Tombs” erzählen sie die Geschichte von „20.000 Meilen unter dem Meer“ nach und um zu hören, wie gut das gelingt, reichen schon die ersten zweiten Minuten des Albums („Prof. Arronax' Descent into the Vast Oceans“). Zunächst werden wir Hörenden von einer massiven Gitarrenwand erschlagen und Daniel Droste brüllt uns verzweifelt „Breathe!“ entgehen. Nachdem Prof. Arronax es aber an Bord der Nautilus geschafft hat und vor dem Ertrinken gerettet wurde, wird auch der Sound sanfter, fast schon träumerisch. Es sind diese Wechsel zwischen erdrückendem Doom Metal und sanften Post-Metal-Landschaften, die Ahab so besonders machen. Und eine Sache, die mir bei all dem Lob, den das Album bekommen hat, etwas untergeht, ist die Performance von Droste. Seine Vocals sind unglaublich und die Range, die er von Growls bis zum Klargesang hat, ist bemerkenswert. Einer der most underrated Vocalists, den es im Metal heute gibt.
5 Hellripper – Warlocks Grim & Withered Hags (17. Februar)
Iron Maiden, Venom und Motörhead kommen in eine Bar und gründen eine Band. Nein, das wird kein flacher Metalwitz, sondern beschreibt den Sound von Hellripper am treffendsten. Dreckiger First Wave Black Metal gepaart mit der rotzigen Attitüde von Motörhead und dem Gespür für Gitarrenmelodien der großen NWOBH-Bands. Der Schotte James McBain, der alle Instrumente selbst eingespielt hat, singt und das Album sogar eigenständig produziert hat, ist mit „Warlocks Grim & Withered Hags“ ein neuer Meilenstein in Hellrippers Geschichte gelungen. Insbesondere die Verbindung von traditionellen schottischen Themen und Sounds hebt die Musik auf ein ganz neues Niveau. Das wird besonders beim Titeltrack deutlich, der sich am weitesten von dem sonst typischen, schnellen Blackened Thrash Hellrippers entfernt und damit einen Volltreffer landet. Allen voran die Dudelsäcke, die sich gegen Ende des Lieds ein Duell mit den Gitarren liefern, sind fantastisch. Und da sag nochmal einer, Black Metal sei nicht unterhaltsam!
4 Horrendous– Ontological Mysterium (18. August)
Death, die legendäre Death-Metal-Band um Chuck Schuldiner, gehört zu meinen Lieblingsbands aller Zeiten. Kaum auszumalen, was uns durch den frühen Tod von Schuldiner an grandioser Musik entgangen ist. Hätten Death den Weg, den sie mit ihren letzten Alben in den 1990er eingeschlagen haben, weitergehen können, ich glaube, sie hätten so ähnlich geklungen wie Horrendous heute. Kann es ein größeres Kompliment für eine Band geben? „Ontological Mysterium“ zeigt das US-amerikanische Quartett auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Ihr Death Metal ist progressiver, vielfältiger und melodischer als je zuvor. Das macht der Opener „The Blaze“ sofort klar: Mysteriöse Vocals, die über eine sich langsam aufbauende Gitarrenlandschaft gehaucht werden, bereiten den Weg für „Chrysopoeia (The Archaeology of Dawn“) – ein veritabler Progressive-Melodeath-Banger. Progressive Melodic Death Metal, ein Subgenre, von dem ich bis dato nicht ahnte, wie sehr ich es brauche. Dass Horrendous mit „Ontological Mysterium“ etwas Grandioses gelungen ist, sehe übrigens nicht nur ich so: Das Decibel Magazin hat die Platte als ihr Album des Jahres ausgezeichnet. In meinen Augen absolut verdient.
3 Crypta– Shades of Sorrow (4. August)
Dass Horrendous trotzdem nicht meine Lieblings-Death-Metal-Platte das Jahres gemacht hat, liegt an den Brasilianerinnen von Crypta. Sie mögen nicht die technisch anspruchsvollste, innovativste oder härteste Death-Metal-Band da draußen sein, aber sie sind die mit Abstand am unterhaltsamste! „Shades of Sorrow“ ist eine Liebeserklärung an den 1990er-Jahre Death Metal. Sei es der Florida-Sound von Bands wie Cannibal Corpse oder Death oder die skandinavischen Vertreter wie At The Gates oder Etombed – Crypta tragen ihre Einflüsse sehr prominent auf ihren Ärmeln (das ist mein Versuch, den englischen Ausdruck „wear your influences on your sleeves“ auch auf Deutsch zu etablieren). Dem Songwriting-Gespür des Quartetts ist es dabei zu verdanken, dass dabei nicht die x-te Old-School-Death-Metal-Worship-Platte herausgekommen ist, sondern sich Banger an Banger an Banger reihen. „The Other Side of Anger“, „Poisonous Apathy” und “Agents of Chaos” gehören zu den mitreißendsten Extreme-Metal-Songs, die ich in den vergangenen Jahren gehört habe. Ihr Debüt „Echoes of the Soul” war schon echt gut, aber „Shades of Sorrow“ überragt das Album in jedem Punkt. Wenn die Band diese Entwicklung beibehält, dann hat sie ihren Platz im Death-Metal-Olymp neben den oben genannten Vorbildern absolut sicher.
2 The Lion’s Daughter – Bath House (13. Oktober)
Stellt euch vor, ihr seid in den 1970er-Jahren auf dem Times Square in New York. Es ist eine neblige Nacht, die Straßen sind erleuchtet von den Lichtern der Neoreklamen, in den Schatten halten sich zwielichtige Personen auf. Während ihr auf dem Heimweg seid, merkt ihr, dass ihr von jemandem (oder etwas?) verfolgt werden. Für dieses Setting haben die Amis von The Lion’s Daughter den perfekten Soundtrack: dreckiger Sludge Metal gepaart mit Dark-Wave-Synthizer-Einlagen. Diese Musik ist so einmalig und außergewöhnlich, dass mir nicht mal eine passende Subgenre-Bezeichnung dafür einfällt. Was aber der Grund dafür ist, dass die Band aus St. Louis es mit ihrem fünften Album bis fast ganz an die Spitze meiner Jahrescharts geschafft hat, ist ihre Fähigkeit, Ohrwürmer zu schreiben. Und das ist die ganz hohe Kunst im Metal. Bei allen verzerrten Gitarrenriffs und gekeiften Vocals schafft es das Quartett in fast jedem Lied, einen Part zu integrieren, die mir nicht mehr aus dem Ohr geht. In diesem Sinne erinnert „Bath House“ wirklich an einen guten Horrorfilm. Es wird zwar manchmal eklig und man möchte sich an einigen Stellen die Augen zuhalten, aber am Ende ist er so fesselnd, dass man wie gebannt davorsitzt. Falls ihr eure Familien oder Freund*innen an den Feiertagen einmal schockieren wollt, sind The Lion’s Daughter definitiv der passende Soundtrack dafür.
1 KEN Mode – Void (22. September)
Wenn ich mein Album des Jahres wähle, geht es mir darum, dass mich die Musik berührt. Alle (vermeintlich) objektiven Bewertungskriterien fliegen bei dieser Entscheidung im hohen Bogen aus dem Fenster. Und das Album, das mich dieses Jahr am meisten berührt hat, ist „Void“ des kanadischen Quartetts KEN Mode. Wobei berühren der falsche Ausdruck ist, vielmehr hat es mich emotional zerstört. „Void“ ist das traurigste, bedrückendste und verzweifelste Album des Jahres und genau deswegen mein Platz 1. Diese emotionale Schwere transportiert das Quartett in seinem Sludge Metal und Noise Rock zum einen durch die Produktion: Die Vocals wirken weit entfernt und vermitteln eine Losgelöstheit von der Welt. Zum anderen sind auch die Themen extrem deprimierend. Mal geht es um dieses Gefühl, nicht in das Leben hinein zu passen („These Wires“), mal um die Unfähigkeit von uns als Menschheit, Fortschritte zu machen („I Cannot“), oder aber es geht um grundsätzlichen Struggle mit der eigenen Existenz („A Relucatance of Being“). Für den katastrophalen Zustand unserer Welt finden die Kanadier*innen passende Worte. Und musikalisch hebt sich die Band, durch ihr extrem intelligentes Songwriting ab. Nicht jeder Song ist in einem musikalischen Sinne hart, aber alle vermitteln eine drückende Schwere. Selbst die Saxophon-Einlagen von Kathryn Kerr tragen ihren Teil dazu bei. Nein, auf „Void“ ist kein Platz für Hoffnung und genau das ist auf eine seltsame Art und Weise erleichternd. Denn das Album bietet mir die Möglichkeit, mich für vierzig Minuten ganz meinem Weltschmerz hinzugeben. Und manchmal ist das alles, was einem beim Blick aus dem Fenster noch bleibt.