Es wird ernst – jetzt kommen die richtigen Perlen meines Musikjahres. Von Wild-Western-Black-Metal über musikalische Auseinandersetzungen mit Mental-Health-Fragen hin zu postapokalyptischen Erzählungen ist für jeden Geschmack etwas dabei. Euch allen einen schönen dritten Advent and have fun.
20 Receiver – Whispers of Lore (10. November)
In meinem letzten Newsletter habe ich bereits über Receiver geschrieben. Deswegen nur ganz kurz: Das zypriotische Quintett ist meine Heavy-Metal-Neuentdeckung des Jahres und ein absolutes Must-Have für alle NWOBHM-Fans. Und dass mit Nikoletta Kyprianou ein neuer Stern am Heavy-Metal-Vocal-Himmel aufgegangen ist, kann ich auch nicht oft genug erwähnen.
19 In Flames – Foregone (10. Februar)
Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben, dass ich ein In-Flames-Album jemals wieder genießen würde. Die schwedischen Melodic-Death-Metal-Ikonen sind ohne Übertreibung die wichtigste Band meines musikalischen Lebens. „Clayman“ (2000), „Reroute to Remain“ (2002) und „Come Clarity” (2006) gehören bis heute zu meinen Lieblingsalben. Und auch wenn ich den Modern Metal/ Alternative Rock, der die letzten drei Alben geprägt hat, nicht so schlecht finde wie viele andere in der Szene: Die In Flames, die ich liebe, waren das nicht mehr. Umso beeindruckender ist die Rolle rückwärts, die die Band jetzt auf „Foregone“ hingelegt hat. Ob es am neuen Gitarristen Chris Broderick (Ex-Megadeth) liegt oder an den dystopischen Zuständen während der Pandemie, die den Aufnahmeprozess prägten, sei mal dahingestellt. Fakt ist, In Flames klingen so heavy und wütend wie seit 2006 nicht mehr. „Meet Your Maker“, „The Great Deceiver“, „Foregone Pt. 1“ oder „State of Slow Decay“ sind grandiose Melodeath-Brecher. So gliedern sich auch die ruhigeren und poppigeren Lieder besser in den Albumkontext ein als auf den letzten Platten. Dass Anders Fridén die beste Vocalperformance seiner Karriere hinlegt, schadet auch nicht. „Foregone“ ist der Beweis, dass in den Ikonen des Sounds of Gothenburg noch genug Lust auf Metal steckt und dass sie, wenn sie wollen, in der Lage sind, den jüngeren Genrekolleg*innen zu zeigen, wo der Hammer hängt. In Flames are back and I am here for it!
18 Gridlink – Coronet Juniper (15. September)
Kann man nach einem Schlaganfall, der einen halbseitig gelähmt zurücklässt und jahrelang dafür sorgt, dass man nicht länger als zehn Minuten Musik machen kann, ohne brutale Kopfschmerzen zu bekommen, ein Metalalbum aufnehmen? Matsubara Takafumi ist der Beweis, dass das geht. Mit seiner Band Gridlink hat der Gitarrist 2014 mit „Longhena“ einen Klassiker des modernen Grindcores vorgelegt. Kurz darauf erlitt Takafumi einen Schlaganfall. Dass er heute wieder in der Lage ist, Gitarre zu spielen, und das auf diesem technischen unfassbaren Niveau wie auf seinem Comeback-Album „Coronet Juniper“, ist ein kleines Wunder (dieses Interview von Takafumi ist in dem Kontext sehr lesenswert). Insbesondere wenn man bedenkt, dass es nicht irgendein Metalsubgenre ist, das Gridlink spielen, sondern der hypertechnische und -aggressive Grindcore. Es ist vielleicht das Subgenre, das Außenstehende am meisten verstört, wenn sie es das erste Mal hören. Songs, die in der Regel die Zwei-Minute-Marke nicht überschreiten und einem erbarmungslos alles abverlangen. Grindcore zu hören fühlt sich an, wie im Inneren einer Waschmaschine zu sein, während der Schleudergang läuft. Aber auch abgesehen von Takafumis Heldengeschichte ist das vierte Album Grindlinks speziell. Es gibt keine andere Band des Genres, die den aggressiven Sound des Grindcore so gekonnt mit Melodien verbindet. Songs wie „Silk Ash Cascade“, „Ocean Vertigo“ und „Revenant Orchard” sind veritable Ohrwürmer (wenn man das so nennen kann). In gerade einmal 19 Minuten zeigen Takafumi und Co., wie vielschichtig ein Genre sein kann, das sonst gerne für seine Eindimensionalität belächelt wird.
17 Spotlights – Alchemy for the Dead (28. April)
Auch über Spotlights habe ich schon ausführlich geschrieben und halte mich deswegen kurz. Die Band um das Ehepaar Sarah und Mario Quintero klingt, als hätten die Deftones Ambient-Musik für sich entdeckt. „Alchemy for the Dead“ mäandert zwischen traumhaften Klanglandschaften und dröhnenden Gitarrenriffs dahin, ohne je ziellos zu wirken. Man merkt der Musik zwar an, dass die Songs in improvisierten Sessions entstanden sind, aber es spricht für die Qualität der Musiker*innen, dass das Endresultat nicht willkürlich oder erratisch wirkt, sondern diese besondere Magie der Spontanität auch auf Platte überträgt.
16 Alkaloid – Numen (15. September)
Wenn ich die Namen Hannes Grossmann (Schlagzeug), Linus Klausenitzer (Bass) oder Christian Münzner (Gitarre) lese, weiß ich, dass mich gleich grandioser Death Metal erwartet. Die drei gehören nicht nur zu Deutschlands profiliertesten Metal-Musikern, sondern sind weltweit mit ihren Bands ein Qualitätssiegel für Progressive und Technical Death Metal der Extraklasse. Alkaloid, bei dem Sänger Morean die Band komplettiert, ist sowas wie ein Abenteuerspielplatz für die drei. Eine echte Supergoup, in der sie sich ganz ihrer Spiellaune hingeben können. Was bei vielen Supergroups gründlich in die Hose geht, getreu dem Motto „zu viele Köche verderben den Brei“, funktioniert hier herausragend. Mit „Numen“ ist Alkaloid eine ausufernde, epische Platte gelungen, die jede Sekunde ihrer 70 Minuten Spielzeit rechtfertig. Jeder Song hat eine besondere Idee, ein außergewöhnliches Element, das ihn abhebt. Das Album beweist, wie vielfältig Progressive Death Metal klingen kann. Seien es spanische Gitarren in „The Cambrian Explosion“, der hypnotische Refrain in „Clusterfuck“ oder die Drone-Passage in „The Folding“ – Alkaloid reißen Grenzen ein und nehmen die Hörenden nicht nur lyrisch mit auf eine Reise durch den Kosmos.
15 Green Lung – This Heathen Land (3. November)
Dem Grundgerüst ihres Sounds sind die Londoner Green Lung auch auf ihrem dritten Album treugeblieben: Doom Metal, der sich ganz deutlich bei ihren übergroßen Landsleuten Black Sabbath bedient. Und dennoch hat sich die Band um Gitarristen und Songwriter Scott Black in allen Bereichen weiterentwickelt. Schaffte es ihr letztes Album „Black Harvest“ (2021) noch auf Platz 40 meiner Alben des Jahres, landet „This Heathen Land“ problemlos in den Top 20. Das liegt daran, dass die Band, alles, was sie bereits ausgezeichnet hat, nochmal verbessert. Die Melodien und Refrains sind unglaublich catchy und ansteckend. Die gesamte Platte ist vollgepackt mit Ohrwürmern („Forest Church“, „Maxine (Witch Queen)“, oder „The Ancient Ways“). Hinzu kommt, dass das Songwriting vielfältiger ist und das Quintett neben dem Sabbath-Worship vermehrt auf Psychodelic-Rock-Einflüsse der 1970er setzt, ohne dabei die eigenen Stoner-Doom-Wurzeln zu vergessen. Und zu guter Letzt muss ich den Elefanten im Raum adressieren: Tom Templars Stimme erinnert unglaublich an Tobias Forge, besser bekannt als Mastermind von Ghost. Es scheint insgesamt auch so, als hätten Green Lung sehr genau aufgepasst, mit welchem Sound Ghost erfolgreich geworden sind: „This Heathen Land“ erinnert an vielen Stellen an die frühen Alben von Papa Emeritus und Co. Definitiv ein Vergleich, für den man sich nicht schämen muss!
14 Svalbard– The Weight of the Mask (6. Oktober) (CN Depression)
Man kann trefflich darüber streiten, wie relevant Texte im Metal sind. Manchmal sind sie mir gelinde gesagt völlig egal, aber manchmal machen sie aus einem guten Album ein herausragendes. „The Weight of the Mask“ von den Brit*innen Svalbard ist so ein Fall. Ich kenne die Band seit ihrem zweiten Album „It’s Hard to Have Hope“ (2018), und genau so lange faszinieren mich ihre Lyrics schon. Es geht um Sexismus, die (finanziellen) Struggles von Millennials im Kapitalismus und immer wieder auch um Mental Health. „I don’t feel hope, I just fake it! I don’t feel joy, I just fake it!” schreit uns Gitarristin und Sängerin Serena Cherry auf dem Opener des neuen Albums. „The Weight of the Mask“ ist eine ebenso bedrückende wie eindringliche Auseinandersetzung mit Depressionen. Die systemische und gesellschaftliche Kritik, die auf „When I Die, Will It Get Better?“ (2020) noch dominierte, hat der introspektiven Auseinandersetzung mit physischen Erkrankungen Platz gemacht. Die große Kunst Cherrys besteht darin, den Kampf gegen diese Krankheiten auch für Menschen erfahrbar zu machen, die nicht darunter leiden. Wenn sie in „Light Out“ immer wieder stakkatohaft ruft „I am too depressed to show you how depressed I am”, transportiert sie damit eine Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, die jede*r nachvollziehen kann. „The Weight of the Mask“ macht diese dunklen Gefühle ohne Kitsch und schonungslos nachfühlbar. Die musikalische Mischung aus Post Hardcore und Post Metal verstärkt die klaustrophobische Wirkung der Lyrics zusätzlich (es passt sehr gut zu dem Album, dass die Black-Metal-Elemente, die früher dominierten, jetzt eher dezent auftauchen). So schwer die Themen und so intensiv die Musik auch sein mögen, für mich hat „The Weight of the Mask“ dennoch etwas Kathartisches. Wenn ich nach einer dreiviertel Stunde aus dem Album auftauche, bin ich zwar emotional ausgelaugt, habe aber auch die Gewissheit, nicht alleine zu sein. Viel mehr kann Musik meiner Meinung nach nicht erreichen.
13 Divide and Dissolve– Systemic (30. Juni)
Wie politisch Musik ganz ohne Lyrics sein kann, beweist die US-Amerikanerin Takiaya Reed mit ihrer Band Divide and Dissolve. Man merkt dem Drone/Doom Metal zu jeder Zeit an, dass eine Haltung hinter der Musik steht. Im Sommer habe ich bereits sehr ausführlich über das neue Album „Systemic“ geschrieben, das erste, das Reed ohne ihre bisherige Partnerin Drummerin Sylvie Nehill aufgenommen hat. Deswegen nur so viel: „Systemic“ ist nicht nur eines meiner liebsten Alben des Jahres, sondern die beste rein instrumentale Metalplatte, die ich kenne.
12 Wayfarer – American Gothic (27. Oktober)
Würde ich euch bitten, dass ihr euch eine Gegend passend zu Black Metal vorzustellen, gehe ich fest davon aus, dass die meisten an die kalten und verschneiten Landschaften Norwegens denken. Die Weiten der nordamerikanischen Prärie zur Jahrhundertwende kommen sicher nur den wenigsten in den Sinn. Aber genau dahin entführen Wayfarer ihre Hörer*innen. Treffenderweise wid der Sound des Quartetts auch Wild West Black Metal genannt. Es geht bei Wayfarer aber nicht darum, eine verklärte Lucky-Luke-Welt zu erschaffen, sondern die Realität dieser Zeit in musikalische Form zu pressen. Nie hat dieses Vorhaben besser funktioniert als auf „American Gothic“. Kühler Black Metal mischt sich mit Folk-Elementen aus der Cowboy-Zeit (besonders deutlich in „A High Plains Eulogy“). Und auch textlich bleibt die Band diesem Konzept treu. Es gibt keine glorifizierenden Heldengeschichten. Vielmehr wird der karge, harte Alltag in den nordamerikanischen Steppen erzählt, der geprägt ist von verblassender Hoffnung („The Thousands Tombs of Western Promise“), dem Kampf ums Überleben („The Cattle Thief“) oder dem Leid, das mit der Industrialisierung einhergeht („Reaper on the Oilfields“).
11 Cattle Decapitation – Terrasite (12. Mai)
Metal eignet sich in meinen Augen wie kein zweites Musikgenre dazu, den fatalen Zustand unserer Welt musikalisch zu verarbeiten. Beispiel gefällig? Das US-amerikanische Quartett Cattle Decapitation beweist inzwischen seit 1996, wie gut Aktivismus und Death Metal Hand in Hand gehen. Dabei gehören sie nicht nur zu den lautesten Bands, wenn es um Fragen rund um Nachhaltigkeit, Tierrechte, Kampf gegen die Klimakatastrophe oder den katastrophalen Folgen des ungezügelten Finanzkapitalismus geht, sondern sie liefern auch beständig herausragende Musik. Dass ihr zehntes Album „Terrasite“ dennoch aus dieser grandiosen Diskografie heraussticht, liegt an dem fantastischen Konzept. Es erzählt die Geschichte einer parasitären Spezies, die sich aus den Ruinen der untergegangenen Erde erhebt. Es ist nicht schwer, darin eine Metapher auf unsere heutige Welt zu erkennen. Neben den sehr lesenswerten Lyrics gibt es auch musikalisch alles, was Death-Metal-Fans sich wünschen können: packende Riffs, drückende Doublebass und die gesamte Vocal-Range von Travis Ryan. Mit fast 50 klingt er besser als je zuvor, ganz egal, ob es tiefe Growls oder seine beinahe comichaften Signature-Screams sind – Ryan liefert ab. Wenn die Welt schon untergeht, bin ich happy, dass wir wenigstens so einen Soundtrack dazu haben.