Ich spare mir jetzt alle Takes à la „Das Jahr ist schon wieder halb rum. Wo ist nur die Zeit geblieben?!“ und komme direkt zum Punkt: Hier findet ihr die zehn Alben, die ich in diesem Jahr bisher am besten fand. Wie immer hätten ich hier auch 15, 20 oder 30 Alben auflisten können. Deswegen ist diese Liste auch eher als Momentaufnahme zu sehen, die je nach Stimmungslage völlig anders aussehen könnte. Es gibt dieses Mal auch keine besondere Reihenfolge. Die Alben tauchen einfach chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum auf. So, genug der Vorrede. Viel Spaß mit meiner Liste und lasst mich doch wissen, was eure bisherigen Highlights des Metal-Jahres 2023 waren!
Ahab – The Coral Tombs
Veröffentlicht: 13. Januar
Ich habe sehr selten ein Metal-Album gehört, dass ein inhaltliches Konzept so perfekt musikalisch inszeniert. „The Coral Tombs“ erzählt die Geschichte aus „Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer“ und könnte problemlos als offizieller Soundtrack für den Romanklassiker von Jules Verne dienen. In den ersten Sekunden des Albums bricht eine brutale Death-Metal-Soundwand und der verzweifelte Schrei „Breathe“ über die Hörenden hinein und läutet den Todeskampf unseres Protagonisten Professor Arronax ein. Nur damit er (und mit ihm auch wir) sich Sekunden später in Sicherheit und faszinierend staunend an Bord der „Nautilus“ wiegt und der Death Metal reduzierten und beinahe zarten Doom-Metal-Melodien Platz macht. Diese ersten zwei Minuten zeigen, wieso Ahab eine so außergewöhnliche Band ist. Sie schafft es, auf eine unnachahmliche Art Stimmungen musikalisch wiederzugeben, dass es einige Hollywood-Soundtracks in den Schatten stellt. „The Coral Tombs“ ist eine beeindruckende Doom-Metal-Reise, die so abwechslungsreich und intensiv ist wie die Tiefen der Weltmeere selbst.
Hellripper – Warlocks Grim & Withered Hags
Veröffentlicht: 17. Februar
Bis heute fällt es mir schwer zu glauben, dass an Hellripper quasi niemand außer James McBain beteiligt ist. Der 28-jährige Schotte spielt nicht nur alle Instrumente und singt, nein, zudem ist er in großen Teilen eigenständig für die Produktion und das Mixing seiner Musik zuständig. Das macht es umso beeindruckender, wie komplett „Warlocks Grim & Withered Hags“ klingt. Es ist unglaublich, wie spielerisch McBain so viele Elemente aus den frühen Tagen des Thrash, Heavy und Black Metals verbindet und dennoch eine eigenständige Originalität behält. Die acht Songs auf „Warlocks Grim & Withered Hags“ machen von vorne bis hinten einfach nur Spaß und sind nicht nur ein Genuss für Old-School-Metal-Fans. Denn wer es schafft, ein Dudelsack-Solo so organisch in einen Blackened-Thrash-Metal-Song einzubauen, wie McBain das im Titeltrack gelingt, der versteht sein Handwerk wirklich außerordentlich gut!
Avatar – Dance Devil Dance
Veröffentlicht: 17. Februar
Kommt auf die Straße, der Zirkus ist in der Stadt! Elaborierte Band-Konzepte, extravagante Verkleidungen und ein gewisser Hang zu Theatralik gehören im Metal ja seit jeher dazu. Aktuell gibt es nur wenige Bands, die diesen künstlerischen Eskapismus so gut mit musikalischer Qualität in Einklang bringen wie Avatar. Diese Liebe zum spielerischen Konzept geht so weit, dass die Schweden auf ihrem Album „Avatar Country“ (2018) ein Band-eigenes Königreich ausriefen. In diesem Jahr hat uns das Quintett mit ihrem neunten Album „Dance Devil Dance“ beglückt, das inzwischen zu meinen Liebsten ihrer Diskografie zählt. Es ist vielfältig, unvorhersehbar und unendlich unterhaltsam. Die Band kann ebenso überzeugend einen Party-Punk-Song über zwei Möchtegern-Revolutionäre schreiben („Gotta Wanna Riot“) wie eine antifaschistische Modern-Metal-Hymne („Violence No Matter What“ feat. Lizzy Hale). Im tiefsten Herzen mag Avatar weiter eine Melodic-Death-Metal-Band sein, aber was sie so besonders macht und vom Rest ihrer Genre-Kolleg*innen abhebt, ist ihre Kreativität – ob Blues, Country oder Reggae, es gibt kaum ein Genre, in dem die Schweden nicht wildern. Und was früher manchmal etwas ziellos und willkürlich wirkte, ist inzwischen so wohldosiert eingesetzt, dass „Dance Devil Dance“ für die unterschiedlichsten Geschmäcker etwas zu bieten hat.
LOVEBITES – Judgement Day
Veröffentlicht: 22. Februar
Ich gebe es zu. Es hat etwas gedauert, bis mich das neue Album der Japanerinnen LOVEBITES richtig umgehauen hat. Egal, ob die Gitarren, das Drumming oder der Gesang – alle Beteiligten geben zu jedem Zeitpunkt 100 Prozent und diese unfassbare Intensität kann erstmal überfordernd wirken. Aber lässt man sich auf diese Art des Highspeed-Power-Metals erstmal ein, merkt man schnell, wie talentiert die Musikerinnen sind und dass jeder Riff, jede Gesangsharmonie und jeder Basslauf seinen Sinn und Zweck hat. Zudem bedienen LOVEBITES sich auf „Judgement Day“ kreativer als je zuvor in den Tiefen der Metal-Historie. Hier eine Gesangslinie, die an Rob Halford erinnert, da dieser galoppierende Bass, mit dem Steve Harris und Iron Maiden berühmt geworden sind, und on top die Geschwindigkeit, die Dragonforce in den Power Metal gebracht hat. Keine moderne Power-Metal-Band schafft es, diese unterschiedlichen Elemente so gekonnt in einen organischen Sound zu vereinen. Deswegen bin ich heilfroh, dass LOVEBITES ihre 2021 angekündigte Bandpause überraschend schnell beendet haben, um uns „Judgement Day“ um die Ohren zu werfen.
Haken – Fauna
Veröffentlicht: 3. März
An meiner Meinung aus dem März, dass „Fauna“ für mich das beste Metal-Album des bisherigen Jahres ist, hat sich auch knapp vier Monate später nichts geändert. Das siebte Album der Briten Haken ist ein modernes Prog-Metal-Meisterwerk. Im Songwriting verbindet die Band moderne Popelemente ebenso spielerisch mit harten Djent-Riffs wie mit klassischen Progressive-Rock-Arrangements. Zusammengehalten wird der vielfältige Sound durch Sänger Ross Jennings, dessen markante, hohe und klare Stimme „Fauna“ einen Rahmen bietet. Am beeindruckendsten für mich persönlich ist jedoch, wie die Band es geschafft hat, ihre musikalische Vielschichtigkeit mit dem inhaltlichen Konzept zu verbinden. Jeder Song erzählt eine kleine Fabel, auf die der Sound perfekt abgestimmt ist, ohne dass die neun Lieder wahllos zusammengewürfelt wirken. Alles in allem ein perfektes Album, an dem ich nichts auszusetzen habe.
Sermon – Of Golden Verse
Veröffentlicht: 31. März
Immer mal wieder tritt der Fall ein, dass ich die ersten Takte eines Songs höre von einer Band, die ich nicht kenne, und sofort weiß, dass das etwas Besonderes ist. Das letzte Mal ist mir das vor ein paar Wochen mit Sermon so ergangen. Ich hatte vorher noch nie von der britischen Band gehört und wurde neugierig, als „Of Golden Verse“ beim Online-Metal-Magazin Angry Metal Guy in den Alben des Monats auftauchte. Der Sound von Sermon hat etwas Essentielles an sich, das bei mir ein tiefliegendes Unbehagen auslöst. Da passt es auch, dass der Sänger, Gitarrist und Keyboarder (und die treibende Kraft hinter der Band) auf den Namen „Him“ hört und nur maskiert auftritt. Was bei anderen Bands inzwischen zu einem Metal-Klischee geworden ist, verstärkt hier den Effekt von Ungewissheit, den bereits die Musik auf mich hat. Bricht man es auf die rein musikalische Ebene herunter, ist „Of Golden Verse“ ein vor allem Rhythmus- und Bass-getriebenes Progressive-Metal-Album. Die Vergleiche mit Bands wie Soen oder Tool kann ich ein Stückweit verstehen, aber es passt am Ende eben doch nicht ganz. Wie das mit wirklich außergewöhnlichen Bands nun einmal so ist, hat ihr Sound etwas, das sich mit Worten nur schwer greifen lässt. Bei Sermon ist das definitiv diese bedrückende Atmosphäre, die irgendwo versteckt unter alle Songs liegt und mich so sehr fesselt. „Of Golden Verse“ ist die größte musikalische Überraschung für mich in diesem Jahr und ich bin mir sicher, dass ich noch viel Zeit in Sermons dunklen Welten verbringen werde.
Blazon Rite – Wild Rites and Ancient Songs
Veröffentlicht: 13. April
Manchmal ist das Gute so einfach. Bei Blazon Rite gibt es keine spektakulären Tricks, keinen doppelten Boden oder außergewöhnliche Experimente. Auf dem zweiten Album des US-Quintetts „Wild Rites and Ancient Songs“ gibt es ganz klassischen Old School Heavy Metal mit einer Menge Epik. Zugegeben, dass Mittelalter-Fantasy-Thema kann manchmal etwas cheesy wirken, aber wenn die Musik so gut und eingängig ist, dann sehe ich da gerne drüber hinweg. Blazon Rite wissen, wie sie mich zum Grinsen bringen und dazu, meine Faust im Rhythmus gen Himmel zu recken. Und mehr muss ein Metal-Album am Ende gar nicht leisten. Das vermeintlich Einfache richtig gut hinzubekommen, ist eben auch eine Kunst für sich. Und wenn das Ergebnis so gut ist wie hier, dann braucht es am Ende auch gar nicht viele Worte.
Spotlights – Alchemy for the Dead
Veröffentlicht: 28. April
Ich habe keine Ahnung, ob Spotlights überhaupt Metal ist. Die Musik von Ehepaar Sarah und Mario Quintero und Drummer Chris Enriquez bewegt sich irgendwo in den Sphären zwischen Post Metal, Shoegaze und Alternative Rock. Schlussendlich ist der Sound der Band aber so heavy, insbesondere auf einer emotionalen Ebene, dass sich viele „klassische“ Metal-Bands davon eine Scheibe abschneiden können, und das hat mir gereicht, um sie in diese Liste aufzunehmen. Das wirklich Besondere an „Alchemy for the Dead“ besteht für mich in seiner Vielschichtigkeit, die sich dadurch zeigt, wann ich das Album hören kann: Sowohl wenn ich arbeite und Hintergrundmusik brauche, die mich nicht direkt ablenkt, aber mir hilft, meinen Fokus zu bewahren, als auch wenn ich alleine mit Kopfhörern auf dem Bett liege und mich ganz auf die Musik konzentrieren will. Den Sound kann man sich dabei vielleicht am ehesten vorstellen, als hätten die Deftones in den frühen 2000er-Jahren versucht, ein My-Bloody-Valentine-Album zu schreiben. Ich könnte jetzt weiter über die sensationelle Gitarrenarbeit schreiben, die tolle Produktion oder die super schöne Harmonie der Stimmen der Quintero-Eheleute – aber stattdessen hoffe ich, dass ihr euch einfach selbst davon überzeugt, mit was für einem besonderen Album wir es hier zu tun haben.
Cattle Decapitation – Terrasite
Veröffentlicht: 12. Mai 2023
Eins steht für mich überhaupt nicht zur Debatte – Metal ist der Soundtrack für den Weltuntergang! Und wenn wir als Menschheit in unser selbstgemachtes Verderben rennen, dann möchte ich persönlich, dass dabei irgendetwas von Cattle Decapitation im Hintergrund läuft und uns in einen letzten Sonnenuntergang führt. Okay, okay, genug der Theatralik und zurück zum Ernsthaften: „Terrasite“, das achte Album der Amis, ist nicht nur ein herausragendes Stück Death Metal, sondern fängt auch perfekt das Gefühl ein, das ich beim Blick auf den Zustand der Welt momentan habe. Konzeptuell erzählt „Terrasite“ eine Geschichte über das Ende der Menschheit und den Aufstieg einer Spezies, die halb Mensch, halb Kakerlake ist (und das Cover ziert) und sich aus den Ruinen der Apokalypse erhebt. Es ist das typische nihilistische Motiv der Band, die als radikale Tier- und Klimaschützer angefangen haben und sich nun vollständig ihrem Ekel gegenüber der Menschheit als Ganzes hingeben. Musikalisch wird es schon schwieriger zu beschreiben, was Cattle Decapitation so besonders macht – ganz einfach, weil sie sich mit niemandem sonst vergleichen lassen. Sie haben sich in der Welt des Death Metals ihre eigene kleine Nische erspielt. Irgendwo zwischen Technical und Progressive Death Metal, mit einer Portion Grindcore und hier und da ein paar Black-Metal-Elementen, sind sie eine dieser Bands, deren Sound man sofort erkennt, und die in dem, was sie tun, unerreicht sind. Insbesondere weil sie sich eben nicht zu schade sind, auch mal epische und melodische Riffs in ihren Sound zu integrieren. „Terrasite“ ist mit eben diesem geballten Pathos, den super speziellen Vocals von Travis Ryan und unzähligen eingängigen Refrains und Riffs ein Maßstab, an dem sich künftige Extreme-Metal-Veröffentlichungen messen lassen müssen. Eben genau das Album, das ich zum Weltuntergang will.
Shadows – Out For Blood
Veröffentlicht: 19. Mai 2023
Ich würde euch jetzt gerne eine spannende Bandgeschichte erzählen oder ein interessantes Albumkonzept. Die Wahrheit ist aber, dass ich lediglich weiß, dass Shadows ein Duo (oder ein Ein-Mann-Projekt?) aus Santiago de Chile ist und ich die Musik liebe, weil sie wie Ghost in ihren Anfangstagen klingen. Das ist eine Hommage an den Sound einer anderen Band, wie ich sie sein soll. Dicht am Original (besonders die Vocals sind erstaunlich ähnlich), aber doch eigenständig genug, dass es keine bloße Kopie ist. Und nur weil man sich beim Sound an einem Vorbild orientiert, heißt das noch lange nicht, dass das Endresultat auch automatisch so fantastisch klingt wie auf „Out For Blood“. Shadows haben ein Gespür für Hits und einen spooky Retro-Charme, mit dem sie sich nicht vor Ghost verstecken müssen.