Wenn man nicht gerade ein rechter Klimakrisenleugner ist, sind die Zeiten, in denen wir leben, nicht so super angenehm. Metal ist und wird für mich immer der Soundtrack für solche dystopischen Zeiten bleiben. Auch dieses Jahr habe ich wieder fast 200 Alben aus allen denkbaren Subgenres so intensiv gehört, dass ich mir eine Meinung zu ihnen bilden kann. Wir sind endlich an dem Punkt angekommen, an dem ihr erfahrt, welche meine drei Lieblinge waren.
Am Ende bleibt mir nicht mehr zu sagen als danke fürs Lesen! Ich wünsche euch allen schöne Feiertage, einen guten Rutsch und lasst mich doch wissen, was eure liebsten Metalplatten des Jahres waren.
Platz 3
Blood Incantation – Absolute Elsewhere (VÖ: 04.10. Century Media)
What does it mean to be human? / And the nature of consciousness? / The mystery has been revealed / By the dance of nature’s quiet songs of the birds – Blood Incantation „The Message (Tablet I)“
Wenn es eine Death-Metal-Band schafft, in Forbes besprochen zu werden, sagt das eigentlich alles. Es gab 2024 kein Metalalbum, das mehr rezensiert und gefeiert wurde als „Absolute Elsewhere“ von Blood Incantation und ich kann mich den hymnischen Lobgesängen nur anschließen. Was den Sound des Albums so außergewöhnlich macht, habe ich hier schon ausführlich beschrieben, weswegen ich mich kurz fassen will: Spacey Death Metal trifft 1970er-Jahre Prog Rock und Ambient Music. Das Album klingt genauso nach Death Metal wie nach Pink Floyd. Blood Incantation haben es sich nicht nehmen lassen, sogar ein Lied mit Tangerine Dream aufzunehmen, neben Kraftwerk wohl die einflussreichsten deutschen Electro-Pioniere.
„Absolute Elsewhere“ hat seinen Platz in den Metalgeschichtsbüchern sicher. Es ist eines dieser Alben, die beweisen, dass man auch im Jahr 2024 noch Grenzen verschieben kann, dass sich neue Wege beschreiten lassen. Wenn uns 2024 sonst nichts gegeben hat, dann zumindest dies: Wir konnten die Geburt eines künftigen Metal-Klassikers live miterleben.
Platz 2
Opeth – The Last Will And Testament (VÖ: 22.11. Reigning Phoenix)
A story never told / And waiting in the skies / A man's withered heart on hold / His heiress wears a stranger's eyes – Opeth „A Story Never Told“
Wacken Open Air 2012. Es ist ein strahlend schöner Freitagnachmittag und mein Freund Niko (der aus dem zweiten Teil meines Countdowns) nimmt mich mit zu dem Konzert einer seiner Lieblingsbands. Eine Band, von der ich bis dato ein paar Songs kannte, sie auch mochte, die mir damals aber ehrlich gesagt etwas zu progressiv, zu anspruchsvoll waren.
Dieses Konzert gehört zu den Momenten in meiner Biografie als Musikfan, die ganz nachhaltig etwas verändert haben. Die Art und Weise, wie Opeth rohen Death Metal mit komplexen Songstrukturen verbanden und dazu diese unglaubliche Bühnenpräsenz von Sänger, Gitarrist und Mastermind Mikael Åkerfeldt, haben mich bekehrt. Seitdem gibt es nur wenige Bands, deren Diskografie ich so gut kenne wie die von Opeth. Von den reinen Death-Metal-Anfängen über die Progressive-Death-Metal-Ära bis hin zu ihrer 1970er-Prog-Rock-Phase kenne und liebe ich alles, was die Schweden gemacht haben. „Blackwater Park“ (2001) ist für mich bis heute eines der besten Alben, das jemals aufgenommen wurde.
Im Gegensatz zu vielen anderen Opeth-Fans mag ich auch ihre neueren Alben, die komplett ohne Åkerfeldts charismatische Growls auskommen (insbesondere „Soceress“ (2016)), und doch gab es bei mir diese leise Hoffnung, dass die Schweden früher oder später zum Death Metal zurückkehren würden. Und als niemand mehr damit gerechnet hat, taten sie genau das. Vorhang auf für „The Last Will And Testament“!
Dass das vierzehnte Album der Band zu einem absoluten Highlight ihrer außergewöhnlichen Karriere zählt, liegt aber nicht nur daran, dass die Death-Metal-Einflüsse erstmals seit 2008 wieder zurück sind. Vielmehr klingt das Album wie eine Retrospektive von Opeths Geschichte. Das Album ist so grandios, eben weil auch die Prog-Rock-Einflüsse des letzten Jahrzehnts allgegenwärtig sind. Ian Anderson von Jethro Tull steuert nicht nur eine Flöten-Passagen bei, sondern ist auch als Erzähler der Geschichte zu hören. Wie viel 70s Rock geht, bitte?
Hier sind wir am entscheidenden Punkt: „The Last Will And Testament“ ist so großartig wegen seines Konzepts. Das Album erzählt uns von der Testamentsverkündung eines verstorbenen Patriarchen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; seine drei Kinder sind anwesend, ein Zwillingspaar und eine an Polio erkrankte Pflegetochter, die die Familie aufgenommen hat. Während der Testamentsverkündung – jeder Song ist nach einem Paragraphen benannt (§1 bis §7) – werden mehr und mehr Geheimnisse der Familie enthüllt. Sind die Zwillinge wirklich die leiblichen Kinder des Patriarchen? Oder ist es stattdessen das vermeintliche Pflegekind? Das Album schließt mit der grandiosen Ballade „A Story Never Told“ und lüftet ein letztes Geheimnis, das die Frage nach der Bedeutung von „Blut ist dicker als Wasser“ in den Mittelpunkt des Albums stellt.
Opeth gelingt es, diese Geschichte perfekt mit der Musik zu harmonieren, und dazu nutzt die Band das gesamte Arsenal, was ihnen in ihrer mehr als 30 Jahre dauernden Geschichte zur Verfügung steht. Jede Phase ihrer Karriere verbinden sie perfekt mit einer anderen. Seien es die spielerischen Prog-Riffs („§1“ und „§4“), die Progressive-Death-Metal-Strukturen („§2“) oder die perfekten Harmonien von Åkerfeldts Klargesang mit seinen Growls, die sich durch das gesamte Album ziehen.
Opeth ist eine der besten Metalbands aller Zeiten, und dieses Album ist der endgültige Beweis dafür – wenn es den überhaupt gebraucht hat.
Platz 1
Iotunn – Kinship (VÖ: 08.11. Metal Blade Records)
Now, would you know if I was gone? / An epoch of brothers dissolves / To leave you is a sin / For my own story, forced to begin – Iotunn „Kinship Elegiac“
Musik zu ranken ist eigentlich ein unmögliches Unterfangen, gerade wenn die Alben so unterschiedlich sind wie meine Top 6. Jede dieser Platten hätte mein Album des Jahres sein können. Was also hat den Ausschlag für „Kinship“ von den Dänen Iotunn gegeben? Ganz einfach: Mich hat kein anderes Album dieses Jahr so sehr überrascht.
2021 hat das Quintett mit „Access All Words” ihr Debüt veröffentlicht. Eine frische und cineastische Interpretation von klassischem Progressive Metal, der auch in Melo-Death-Metal-Gefilde eintaucht. Ich mochte die Platte ganz gerne, aber in die einstündige Spielzeit haben sich doch einige Längen eingeschlichen. Da „Kinship“ nochmal fast zehn Minuten länger ist, war ich mental schon drauf eingestellt, das Album nach einem einmaligen Pflichthören zur Seite zu legen – Boy, lag ich damit falsch!
Obwohl viele der Songideen noch aus einer Zeit stammen, in der die Band auch an „Access All Words“ gearbeitet hat, ist der Qualitätssprung zwischen den beiden Alben wahnsinnig groß. Das Songwriting und das Gitarrenspiel der Brüder Jesper und Jens Nicolai Gräs, die das Herz der Band sind, ist so außergewöhnlich, entwickelt eine solche Sogkraft, dass ich kaum glauben kann, dass das gerade mal ihr zweites Album ist. Dabei ist es irre schwer, den Finger drauf zu legen, was die Dänen so außergewöhnlich macht. Zum einen ist da ihre Offenheit gegenüber allen möglichen Genres: Doom, Progressive, Post und Melodic Death Metal und hier und da auch Rock und Heavy Metal finden sich auf „Kinship“. Dazu kommt der warme, einnehmende Klargesang von Jón Aldará, der immer wieder spielerisch in kratzige Shouts und trockene Growls wechselt („Mistland“ zeigt all diese Facetten).
Das Wort, das „Kinship“ aber am besten beschreibt, ist Epik. Es ist durch und durch ein episches Album und jeder einzelne Song trägt dazu bei, sich als Teil in eine große Geschichte zu fügen. Dabei folgt das Album nur einem recht losen Konzept. Es erzählt die Geschichte des Angehörigen eines prähistorischen Stammes, der sich von seiner Familie und seinen Freunden verabschiedet, um die Welt zu erkunden. Man kann dieser Geschichte wortwörtlich folgen, oder aber sie als Allegorie lesen, als den Kampf, den jede*r von uns mit sich austrägt, wenn man neue Wege beschreitet.
Dass man sich beim Hören als Teil eines antiken Epos fühlt, liegt hauptsächlich an der Musik. Sei es in dem Sprechgesang, der den Melodeath-Brecher „Twilight“ eröffnet, dem langsamen Aufbau von „I Feel The Night“, die wunderschöne Akustikballade „Iridescent Way“ oder den eiskalten Gitarrenriffs in „Earth To Sky“, dem härtesten (und gleichzeitig auch eingängigsten) Track des Albums. Über allem thront der Opener der Platte „Kinship Elegiac“. Der 14-Minuten-Song fungiert als eine Art Ouvertüre und nimmt alle Elemente des Albums bereits im Kleinen vorweg. Es gibt wahrlich nicht viele Bands, die ein Lied schreiben können, das eine Viertelstunde lang ist und zu keinem Zeitpunkt langweilig oder aufgeblasen wirkt.
Es gibt keine Minute, um die ich „Kinship“ kürzen würde – und wenn das von mir kommt, will das was heißen. Es ist schön zu wissen, dass die Zukunft des Metals in so guten Händen ist. Iotunn sind dabei nicht nur ein Versprechen an die Zukunft, sondern liefern auch hier und heute bereits Außergewöhnliches ab. Und damit ist „Kinship“ absolut zurecht mein Lieblingsalbum des Jahres 2024.