Auch wenn ich, während ich das hier schreibe, gerade in meiner Küche sitze, die Balkontür offensteht und es draußen milde 17 Grad hat, lässt es sich nicht leugnen, dass die kalte, nasse und dunkle Jahreszeit vor der Tür steht. Um euch den Abschied vom Sommer und den lauen Abenden mit Freund*innen auf der Straße ein wenig leichter zu gestalten, folgen meine Empfehlungen an neuen Metalalben, die euch die stürmischen Herbsttage etwas versüßen. In diesem Sinne – Happy Halloween!
Alien Death Metal, but make it Pink Floyd
(Blood Incantation – Absolut Elsewhere, 4. Oktober, Century Media)
Wenn über das neue Album einer Metalband, die sich bisher vor allem im Underground einen Namen gemacht hat, sogar im Feuilleton gesprochen wird, ist das schon etwas Besonderes. Wenn dieses Album es aber sogar bis ins Forbes-Magazin schafft, geht etwas extrem Außergewöhnliches vor sich. Dieses Kunststück ist den US-Amerikanern von Blood Incantation mit ihrem vierten Album „Absolute Elsewhere“ gelungen.
2019 hat die Death-Metal-Band mit ihrem zweiten Album „Hidden History of the Human Race“ bereits für eine Underground-Sensation gesorgt. Markenzeichen des Quartetts? Überlange Songs, Sci-Fi-Themen, ein Hang zum Prog Rock der 1970er und zu großen Klanglandschaften. Genau dieser Liebe frönte die Band auch auf ihrem letzten Album. „Timewave Zero“ (2022) hat den Death Metal komplett hinter sich gelassen und war, zur Überraschung vieler Fans, ein reines Ambient-Music-Album. „Absolute Elsewhere“ ist nun die logische Verbindung dieser verschiedenen musikalischen Elemente.
Und obwohl das Album zu den am sehnsüchtigsten erwarteten Neuerscheinungen des Jahres zählte, hat wohl niemand damit gerechnet, was für einen Triumphzug Blood Incantation antreten würden. „Absolute Elsewhere“ besteht aus zwei jeweils zwanzig Minuten langen Liedern („The Stargate“ und „The Message“). Darin vereint die Band alles, was sie bisher ausgezeichnet hat, und führt ihren Sound so auf ein völlig neues Level. Technisch anspruchsvolle Tech-Death-Passagen werden von Pink-Floyd-verehrenden Prog-Momenten abgelöst, Death-Metal-Riffs geben sich mit spacigen Synthesizer-Klangteppichen die Klinge in die Hand. Und das Abgefahrene daran? Es funktioniert reibungslos! Phasenweise merkt man beim Hören nicht einmal, wie die unterschiedlichen Stile ineinander übergehen. Insbesondere weil die einzelnen Teile perfekt durch das geniale Drumming von Isaac Faul zusammengehalten werden.
Es gibt jedes Jahr Metal-Alben, die gehypt werden. Aber es geschieht selten, dass nicht nur die Szene selbst, sondern die gesamte Kulturlandschaft so einstimmig ein Album adeln. „Absolute Elsewhere“ wird nicht nur auf zahlreichen Bestenlisten landen, sondern hebt Blood Incantation in die erste Reihe moderner Metalbands. Wie oft kommt es schon vor, dass man einem zukünftig modernen Klassiker dabei zu sehen kann, wie er seinen Platz im Metal-Olymp findet?
Wenn da nur die Screams nicht wären
(Oceans of Slumber – Where Gods Fear To Speak, 13. September, Season of Mist)
Als Oceans of Slumber 2022 ihr letztes Album veröffentlicht haben, schrieb ich dazu:
„Wer eine lupenreine Metal-Platte sucht, wird [hier] nicht fündig. Wer allerdings auf der Suche nach einem einmaligen, hochemotionalen Sound ist, der kann in ‚Starlight and Ashes‘ vielleicht sein Album des Jahres finden.“
Und ich muss gestehen, dass ich das Album nach dieser Review nie wieder angehört habe. Nicht, dass ich das Album schlecht finde, es hat mich einfach nichts zu ihm zurückgezogen. Manchmal sind die eigenen Hörgewohnheiten der beste Kritiker.
So wird es mir mit dem aktuellen Album „Where Gods Fear To Speak“ definitiv nicht gehen. Oceans of Slumber ziehen die Metal-Schrauben wieder an und fügen ihrem Progressive-Southern-Gothic-Sound eine ordentliche Portion Doom und Death Metal hinzu. So hart klangen die Texaner*innen seit ihrem 2018er Album „The Banished Heart“ nicht mehr. Was sich jedoch nicht verändert hat, ist, dass die Musik durch Cammie Beverlys warme Soul-Stimme getragen wird. Sie ist das unbestrittene Zentrum des Sounds. Wer einen Beweis für die Extraklasse ihrer Vocals braucht, soll sich die Powerballade „Wish“ anhören.
Gäbe es da nicht ein Problem, würde ich sogar so weit gehen zu sagen, dass „Where Gods Fear to Speak“ das beste Album der Band bisher ist – und das will was heißen. Was dem im Weg steht, hängt direkt mit der zurückgewonnenen Härte des Sounds zusammen: die Growls. In gut zwei Drittel der Songs kommen harsche Vocals vor, teilweise von prominenten Gastsängern (Miakel Stanne von Dark Tranquility, Fernando Ribeiro von Moonspell), teilweise von Schlagzeuger und Songwriter Dobber Beverly und teilweise von Cammie selbst, die sich oft eigenartig anhören. Das liegt nicht an den Sänger*innen, sondern an der Produktion, die dazu führt, dass die Growls trocken und wie von der restlichen Musik losgelöst klingen (man höre nur das ansonsten großartige „Runs From The Light“).
Und so schade es ist, dass sich dieses Problem durch das gesamte Album zieht – es ist kein Dealbreaker. Denn die Band ist ansonsten auf dem Höhepunkt ihres Schaffens und spätestens mit diesem Album dürfte auch den letzten Kritiker*innen klar sein, dass Cammie Beverly die beste Cleansängerin im modernen Metal ist. Ohne Frage das beste Progressive-Metal-Album des Jahres.
Metal-Koriander
(Oranssi Pazuzu – Muuntatutuja, 11. Oktober, Nuclear Blast)
Metal ist an sich schon ein nicht gerade einsteigerfreundliches Genre. Und dann gibt die Bands, die selbst für eingefleischte Metalfans eine Herausforderung darstellen. Dazu gehören definitiv die Finnen von Oranssi Pazuzu, die seit 2010 Hörer*innen mit ihrem extremen Avantgarde Black Metal verstören. Sie kennen keine Grenze, wenn es darum geht, was sie ihrem Black-Metal-Gerüst hinzufügen. Auf ihrem sechsten Album „Muuntatutuja“ begibt sich das Quintett auf den Weg in elektronische Gefilde. Neben den ekelhaften Screams (man darf das als Kompliment verstehen), den atonalen Riffs und ungewöhnlichen Rhythmus-Mustern, stapelt die Band Schicht um Schicht an elektronischen Sounds und Melodien aufeinander. Das ist überfordernd, phasenweise extrem gruselig und herausfordernd, aber vor allem auch – genial!
Bei Oranssi Pazuzu ist es wie mit Koriander. Es gibt viele Menschen, die den Geschmack einfach nicht ertragen. Da kann ich in der Küche anstellen, was ich will, das Essen wird verdorben, sobald ich Koriander hinzufüge. Aber wer auf den Geschmack steht, wird hier mit einem außergewöhnlichen Sterne-Menü überrascht. Ach, und falls ihr noch einen Soundtrack braucht, um euren Freund*innen auf der kommenden Halloween-Party Angst einzujagen – sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.
Die Zeit für Theatralik
(Seven Spires – A Fortress Called Home, 21. Juni, Frontiers Music
Fleshgood Apocalypse – Opera, 23. August, Nuclear Blast)
Konzeptalben gehören zum Metal wie Bandshirts, Bier auf Konzerten und Gatekeeping. Es gibt kein anderes Genre, in dem so oft kohärente Geschichten vertont werden (von den zahlreichen Bands, die sich komplett einzelnen Fantasy- und Sci-Fi-Epen verschrieben haben, ganz abgesehen).
Eine der Gruppen, die das Geschichtenerzählen in den letzten Jahren musikalisch perfektioniert hat, ist Seven Spires. Die Band besteht aus Absolvent*innen des Boston Berklee College of Music – und genau das macht ihren Symphonic Metal so außergewöhnlich. Denn Sängerin und Komponistin Adrienne Cowan und Gitarrist Jack Kosto haben die musikalischen Fertigkeiten, um echte Symphonien zu komponieren. „A Fortress Called Home“ ist bereits das vierte Album von Seven Spires, die in meinen Augen längst die beste aktuelle Symphonic-Metal-Band der Gegenwart sind (sorry Nightwish!).
Auch hier bleibt die Band ihrem Erfolgsrezept treu: dem klassischen Symphonic-Sound werden Elemente aus zahlreichen anderen Subgenres hinzugefügt. Sei es Melodic Death Metal, Doom oder Folk, Seven Spires wissen, wie man diese unterschiedlichen Stile organisch verbindet. Einen großen Anteil daran hat Cowans Stimme, die wieder zwischen Screaming, Shouting, Growling und Klargesang hin- und herspringt, als wäre es das einfachste der Welt. Diese musikalische Vielfältigkeit trägt dazu bei, dass die Band die Geschichte von einem Menschen erzählen kann, der in einem Schloss eingeschlossen ist und sich mit seinen eigenen Dämonen auseinandersetzt. Die unterschiedlichen Emotionen des Protagonisten versteht man, auch ohne die Lyrics zu kennen. Rein musikalisch der Handlung folgen zu können, ist die ganz große Kunst von Konzeptalben.
Eine unmittelbarere Story erzählen die Italiener*innen von Fleshgod Apocalypse auf ihrer neuen Platte. 2021 hatte Sänger und Bassist Francesco Paoli einen schweren Kletterunfall: innere Blutung, zahlreiche gebrochene Knochen und das lange bestehende Risiko, dass ein Arm amputiert werden muss. Heute ist Paoli fast vollständig genesen und hat diese extreme Erfahrung genutzt, um ein Album daraus zu machen. „Opera“, das siebte Album der Band, erzählt die Geschichte von diesem Sturz und wie der Protagonist der Geschichte sich wieder zurück ins Leben kämpft. Wie der Titel des Albums schon andeutet, wird die Handlung in Form einer Metal-Oper erzählt. Genau wie bei Seven Spires stehen auch bei Fleshgod Apocalypse symphonische Orchestrierungen im Mittelpunkt des Sounds. Aber wo Adrienne Cowan und Co. sich bei zahlreichen anderen Genres bedienen, teilt sich das Operettenhafte hier die Bühne zu gleichen Teilen mit dem Technical Death Metal der Band.
Paoli hat in zahlreichen Interviews gesagt, dass sie noch nie so viel Presse für ein Album bekommen haben – und es ist leicht zu sehen, wieso. Hat sich das musikalische Rezept auf „Opera“ an sich kaum verändert, so ist die Story, die erzählt wird, dermaßen intensiv und nuanciert, dass sie die Musik auf ein völlig neues Level hebt. Zwar stößt die Band bei den besonders epischen Orchestrierungen an Produktionsgrenzen und die einzelnen musikalischen Elemente vermischen sich zu sehr, aber das ist auch der einzige Kritikpunkt, den ich an „Opera“ habe. Fleshgod Apocalypse ist der endgültige Beweis gelungen, dass Metalbands auch in Opernhäuser gehören.
Der Soundtrack zur US-Wahl
(Fever 333 – Darker White, 4. Oktober, Century Media
Chat Pile – Cool World, 11. Oktober, Flenser)
Wir sind nur noch wenige Tage von der US-Wahl entfernt, und wenn diese nur halb so nervenaufreibend wird wie 2020, dann stehen uns anstrengende Wochen bevor. Es ist also genau der richtige Zeitpunkt, um auch musikalisch politisch zu werden.
Wenn es eine Band gibt, die von sich behaupten kann, das Erbe von Rage Against The Machine anzutreten, dann ist es Fever 333. Die Gruppe um Sänger und Mastermind Aaron Butler hat bereits mit ihrem Debüt „Strength in Numb333rs“ (2019) keine Zweifel offengelassen, wofür sie steht: kompromissloser Antifaschismus. Seitdem gab es die Black-Lives-Matter-Proteste als Reaktion auf die Ermordung George Floyds und die USA sind, wie gefühlt alle westlichen Länder, noch weiter nach rechts gerückt. Es ist also keine Überraschung, dass Fever 333 auch auf ihrem zweiten Album „Darker White“ die Missstände der USA klar benennen. Polizeigewalt („No Hostages“ – You might be at home when they kill you, you might be alone when they kill you), die Heuchelei weißer Linker („Tourist“ – Where do you draw the line after they paint a picture perfect scene, but they erase us? I got a black friend, how could I be racist?) oder die rassistisch begründete ökonomische Ungleichheit („Neglience“ – What you snackin' on? How can I get some? Oh, you had some help? Where you get that from?). Musikalisch ist das Ganze in einer Mischung aus Hip-Hop, Punk und Elektro verpackt und trotz der ernsten Themen der Lyrics unverschämt catchy.
Das kann man über Chat Pile nicht direkt behaupten. Wo Fever 333 den politischen Zustand der USA vor allem über ihre Texte transportieren, klingt die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung beim Quartett aus Oklahoma bereits in der Musik durch. Mit einer Mischung aus Noise Rock und Sludge Metal zeichnet „Cold World“ ein düsteres, hoffnungsloses Bild der Welt. Insbesondere die Shouts klingen immer wieder so, als würde Sänger Raygun Busch kurz vor einem echten Nervenzusammenbruch stehen. Der sperrige Sound ist sicherlich gewöhnungsbedürftig und nichts für Menschen, die schon jetzt an ihrer Verzweiflung zugrunde gehen. Wenn man sich aber auf „Cool World“ einlässt, kann man sich in den hypnotischen Rhythmen und Riffs verlieren.
Wie die Wahl auch ausgehen mag und ob man sich im Worst Case (von dem ich fest glaube, dass er NICHT eintritt) danach seiner Wut oder seinem Fatalismus hingeben mag, der passende Soundtrack steht bereit.
Melancholie und kurze Tage
(Avernus – Grievances, 20. September, M-Theory Audio)
Manchmal würde ich gerne wissen, was bei bestimmten Bands hinter den Kulissen so los war. Wie kommt man dazu, ein vor allem im Metal-Underground gefeiertes Debutalbum aufzunehmen – und dann für 17 Jahre von der Bildfläche zu verschwinden? So geschehen bei der US-amerikanischen Band Avernus. 1997 haben sie mit „…Of The Fallen” für ein Highlight des Gothic-Death-Metal gesorgt und galten als nächstes großes Ding neben Bands wie Paradise Lost oder Katatonia. Es sollte anders kommen. Was folgte, war nicht der große Durchbruch, sondern eine fast zwei Jahrzehnte andauernde Funkstille.
Was auch immer die Gründe dafür sein mögen (aus den aktuellen Interviews mit der Band wird das nicht richtig klar), ich bin froh, dass Avernus zurück sind. Die Gothic-Einflüsse sind inzwischen einem zutiefst melancholischen Death Doom gewichen, der sich zum perfekten Soundtrack für triste Herbsttage eignet. Bereits der Song „Nemesis“, der das Album nach einem instrumentalen Intro eröffnet, gibt die Richtung vor: Schwere Riffs, düstere Melodien und die tiefen Gutturals von Rick McCoy dominieren den Sound. Und wo sich andere Death-Doom-Bands in der Monotonie ihres Schwermuts verlieren, gelingt es dem Quartett aus Chicago, variabel genug zu sein, um die mehr als einstündige Spielzeit der Platte zu rechtfertigen. Das liegt in erster Linie am grandiosen Songwriting. Ein Beispiel gefällig? „The Burning Down“ beginnt mit einem Riff, der direkt aus der Katatonia-Schmiede stammen könnte, und kommt erstmal als gewöhnlicher Doom-Track daher, ehe er in der Mitte von einer atmosphärischen Spoken-Word-Passagen unterbrochen wird, die wiederum einer der schönsten Riffs des Albums ablöst. Neben aller Schwere sind es diese kathartischen Momente, die „Grievances“ zu so einem beeindruckenden Album machen.
Für mich gehört das Album zu den größten Überraschungen des Jahres und ich hoffe inständig, dass ich auf Album Nummer 3 nicht wieder 17 Jahren warten muss.
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