Ich wünsche euch allen einen wunderschönen zweiten Advent! Auch dieses Mal ist mein Countdown der besten Metalalben des Jahres bunt gemischt. Von Heavy-Metal-Ikonen über sexy Goth Rock bis hin zu dissonanter Avantgarde bleiben keine Wünsche unerfüllt. Außerdem empfiehlt mein Freund Niko, der selbst Gitarrist ist und von dem ich extrem viel über Progressive Metal gelernt habe, sein Album des Jahres. Have fun!
Platz 18
Anciients – Beyond The Reach Of The Sun (VÖ: 30.08. Season Of Mist)
Ich muss gestehen, dass mir Anciients bis dieses Jahr kein Begriff war. 2016 hatten die Kanadier mit ihrem zweiten Album „Voice Of The Void“ ihren großen Durchbruch und waren sogar für die Junos nominiert, die kanadische Version der Grammys. Seitdem war es still um die Band, was nicht zuletzt am Ausstieg von Gründungsmitglied, Sänger und Gitarrist Chris Dyck lag.
Ich weiß nicht, ob es an meiner Unvoreingenommenheit als Neuling im Anciients-Kosmos liegt, aber die lange Pause und das Besetzungsroulette hat ihnen nicht geschadet. „Beyond The Reach Of The Sun“ ist ein fesselndes Stück Progressive Metal. Wie bei so vielen Bands, die sich in dieser Ecke Sludge meets Prog befinden, bleiben die obligatorischen Mastodon-Vergleiche nicht aus („Despoiled“, „Celestial Tyrant“). Die große Stärke des Albums besteht aber in seinen ausufernden Liedern. Immer wenn sich der Sound auf seine atmosphärische Seite konzentriert, scheint „Beyond The Reach Of The Sun“ am hellsten. „Beyond Our Minds“ klingt wie etwas, das auf einem modernen Cynic-Album auftauchen könnte, und „Is It Your God“ und „Cloak Of The Vast And Black“ wären auch auf der neusten Opeth-Platte nicht fehl am Platz. Dass diese verschiedenen Elemente so gut zueinander passen, liegt insbesondere an Kenneth Cook. Er hat nicht nur das Songwriting von Dyck übernommen, sondern singt auch erstmals Clean Vocals und Growls.
„Beyond The Reach Of The Sun” ist kein perfektes Album, teilweise hätte etwas besseres Editing dem Quartett gutgetan, aber es ist das Synonym für „grenzenloses Potential“. Wenn die nächste Platte nicht wieder acht Jahre auf sich warten lässt, dann steht Anciients an der Schwelle zu etwas ganz Großem.
Honorable Mention:
Fractal Generator– Convergence (Extremer Blackened Death Metal, der alles von den Hörenden fordert)
Platz 17
Necrot – Lifeless Birth (VÖ: 12.04. Tankcrimes)
Mitte der 2010er-Jahre gab es ein Revival des Old-School-Death-Metal-Sounds. Innerhalb weniger Jahre haben einige der erfolgreichsten modernen Death-Metal-Kapellen ihre Debüts veröffentlicht: Blood Incantation, Gatecreeper (jeweils 2016), oder Tomb Mold (2017). Doch während sich diese Bands inzwischen relativ weit von ihrem ursprünglichen Stil verabschiedet haben, hält Necrot die Oldschool-Fahne weiterhin stolz hoch.
Das Trio aus Kalifornien hat seit seinem Debüt „Labyrinths“ (2016) gar kein Interesse daran, ihren Sound großartig weiterzuentwickeln oder ihren Peers zu folgen und die Genregrenzen des klassischen Death Metals zu verlassen. Stattdessen schmeißt Necrots mit packenden Riffs und catchy Songwriting um sich und feiert ihre Liebe zu den 1990ern. „Lifeless Birth“ ist dabei das beste Album der bisherigen Bandgeschichte, weil es sich komplett auf seine Eingängigkeit einlässt (insofern das für ein Death-Metal-Album eben möglich ist). Die Platte ist melodischer Death Metal, ohne Melodic Death Metal zu sein. Und genau diese Unterscheidung – denn ja, das ist ein großer Unterschied – macht sie so packend. „Cut The Cord“ und „Drill The Skull“ drehen sich in den Schädel und bleiben dort mit ihren Mit-Growl-Refrains auch für einige Tage.
So sehr ich es genieße, wenn Bands ihren musikalischen Horizont erweitern, so froh bin ich, dass einige einfach bei ihrem täglich Brot bleiben. Necrot ist der perfekte Beweis, dass das Gute manchmal ganz einfach ist.
Honorable Mention:
Undeath – More Insane (Kompromissloser und eingängiger Old School Death Metal in modernem Gewand)
Platz 16
Tribulation – Sub Rosa In Æternum (VÖ: 01.11 Centurymedia)
Mir fällt kein anderes Beispiel ein, wo eine Metalband einen so extremen Wandel ihres Sounds durchgemacht hat wie Tribulation, und damit so unverschämt erfolgreich ist. Was 2009 als recht klassischer schwedischer Death Metal angefangen hat, hat sich zwischenzeitlich zu einer speziellen Mischung aus Gothic, Doom, Heavy und frühen Black Metal entwickelt („Down Below“ 2018, „Where The Gloom Becomes Sound“ 2021). Und heute? Mit „Sub Rosa In Æternum” hat sich die Band vollkommen dem Gothic Rock hingegeben. Das sieht man nicht zuletzt auch an ihrem Auftreten: Corpse Paint und Mönchskutten sind Sonnenbrille und Lederjacke gewichen.
Musikalisch hat sich dieser Trend schon seit 2018 angedeutet. Bisher waren es die Growls von Sänger und Bassist Johannes Andersson, die Tribulation im extremeren Metal verankert haben. In diesem Sinne stellt „Sub Rosa“ eine Zäsur da. Erstmals sind die Vocals zum großen Teil klar und haben diese warme Tiefe, die so typisch für Gothic Rock und Metal ist. Die neue Platte steht damit Dark-Wave-Bands wie Sisters Of Mercy deutlich näher als dem Death- oder Black-Metal-Erbe früherer Tage. „Saturn Coming Down“ und „Hungry Waters“ sind super eingängige Goth-Hymen und in „Murder In Red“ lässt sogar eine Hommage an John Carpenter grüßen. Diese Nummern, die zu großen Teil ohne Growls auskommen (abgesehen von der ersten Strophe in „Saturn Coming Down“), werden nur durch einzelne Ausnahmen kontrastiert, in denen die harschen Vocals im Vordergrund stehen („Time & The Vivid Ore“) – diese wirken dafür aber umso intensiver.
Tribulation haben mit ihrer Transition zu einer full-blown Gothic-Band für mich alles richtig gemacht. Oder um es mit den Worten aus Sarahs toller Banger-TV-Rezension zu sagen: „Sub Rosa In Æternum“ ist der perfekte Soundtrack für eine sexy Gothic-Party. Und was lässt sich schon gegen ein bisschen Sex Appeal im Metalkosmos einwenden?
Honorable Mention:
Unto Others – Never, Neverland (Poppiger Gothic Metal mit Alternative-Rock-Elementen – nicht immer ein Volltreffer, aber die Hochs sind extrem hoch)
Platz 15
Pyrrhon – Exhaust (VÖ: 06.09. Willowtip Inc.)
Keine Band hat dieses Jahr so gut mein Verhältnis zu der Zeit, in der wir leben, eingefangen wie Pyrrhon.
We went through a pandemic, and now people act like it didn’t happen. We went through an attempted fascist insurrection, and now people act like it didn’t happen. It’s a sense of constantly juggling things and never having a handle on them. That feeling became a big part of this record and the imagery.
Dieses Statement schickt Sänger Doug Moore auf Bandcamp als Begleittext für das sechste Album der Band mit und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Pyrrhon gehört zur dissonanten und experimentellen Seite des Death Metals, und kein Sound ist besser dafür geeignet, um diese konstante Überforderung auch musikalisch zu transportieren. Die zehn Songs sind chaotisch, unvorhersehbar und können selbst eine Anxiety-Attacke auslösen. Aber genau darin liegt für mich die Schönheit und Stärke von „Exhaust“. In dem ich mich bewusst dieser Überforderung und Reizüberflutung aussetzen kann, gewinne ich für den Moment ein Stückweit Kontrolle über das Chaos der Welt zurück. Wohldosierte Konfrontationstherapie.
Was „Exhaust“ für mich zum bisher besten Album der New Yorker macht, ist sein Fokus. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich einen Zugang zu diesem überfrachteten Sound finde. Songs wie „Strange Pains“ oder „Out Of Gas“ sorgen dafür, dass man bei aller Überforderung auch mal Luft holen kann. Ach ja, apropos New York City – nicht nur das Cover, das eine tote Taube ziert, ist eine Hommage an Pyrrhons Heimatstadt, sondern auch der Song „Greatest City On Earth“, der mit der wunderbar Zeile anfängt: They say / If you can make it here / You can make it anywhere / But first you gotta find a way inside.”
Pyrrhon machen es uns jedenfalls so leicht wie nie zuvor, einen Weg in ihren Sound zu finden, und haben damit den perfekten Soundtrack für 2024 geschrieben.
Platz 14
Judas Priest – Invincible Shield (VÖ: 06.03. Sony)
Was kann ich noch zu Judas Priest sagen? Es ist fünfzig Jahre (fünfzig!!!) her, dass sie mit „Rocka Rolla“ ihr Debüt veröffentlicht haben. Ein halbes Jahrhundert später gibt es keinerlei Ermüdungserscheinungen bei den Ikonen der New Wave Of British Heavy Metal – ganz im Gegenteil. Rob Halford klingt mit über 70 keinen Tag älter als 40 und lässt mich wundernd zurück, wem er seine Seele dafür verkauft hat. Seine Vocal-Performance in „The Serpent And The King“ wäre auch auf „Painkiller” (1990) ein Highlight gewesen. Glenn Tipton und Richie Faulkner ballern einen Killerriff nach dem anderen raus und Ian Hill (Bass) und Scott Travis (Drums) wissen sowieso, wie packende Rhythmen funktionieren.
In einem Jahr, in dem guter Heavy und Power Metal recht rar gesät waren, zeigen Judas Priest, was sie noch im Tank haben. „Invincible Shield“ ist eine Hommage an ihre einmalige Karriere, zitiert immer wieder aus der eigenen Discografie, ohne aber jemals repetitiv oder eingestaubt zu wirken. Vielmehr bewegt sich die Band mit Songs wie „Gates Of Hell“ so tief im Power-Metal-Territorium wie nie zuvor und „Fight Of Your Life“ überrascht mit einem Country-artigen Südstaaten-Groove. Wenig überraschend treffen auch diese kleinen Experimente ins Schwarze.
Ich weiß gar nicht, was ich mir von Priest wünschen soll. „Invincible Shield“ wäre der perfekte Moment, um auf dem Höhepunkt des eigenen Schaffens aufzuhören. Nicht vielen Bands gelingt es, mit so einem beeindruckenden Spätwerk ihre Karriere zu beenden. Auf der anderen Seite: Solange Halford und Co. Songs wie „Panic Attack“, „Trial By Fire“ oder „Vicious Circle” schreiben, kann ich ein neues Album kaum erwarten.
Honorable Mention:
King Gizzard & The Lizard Wizzard – Flight b471 (1970er-Jahre Worship Rock von der fleißigsten Musikband der Welt)
Platz 13
Couch Slut – You Could Do It Tonight (VÖ: 19.04., Brutal Panda Productions)
CN Sexualisierte Gewalt
Im Metal gibt es viele Bands, bei denen die Lyrics – seien wir mal ehrlich – völlig egal sind. Bei vielen Death-Metal-Bands interessieren mich die Geschichten über Gewalt und Horror nicht mal am Rande. Und dann gibt es Gruppen wie Couch Slut, bei denen die Bedeutung der Songtexte untrennbar mit der Musik verbunden ist.
She said ‘Some guy raped me in my dumb car last week / Who cares who they are? / I was raped last week in my car / Who gives a fuck who they are?’ / […] / I think about her still / But I’m sad for her still / She’s stuck in there still (Couch Slut – Couch Slut Lewis)
Die feministische, antirassistische und kapitalismuskritische Haltung der Band gehört fest zu musikalischen Identität. Das führt soweit, dass „The Donkey“ zum Ende quasi als Spoken-Word-Stück funktioniert. Dass mich die Band mit ihrem dritten Album „You Could Do It Tonight“ so gepackt hat, liegt aber an meiner neu gewonnen Liebe zum Noise Rock. Die tiefen Bässe, die Dissonanzen, die atonalen Vocals, all das verbindet sich zu einer hypnotischen Klangerfahrung. Wie bei den meisten Bands dieses Genres ist auch Couch Slut nicht leicht zugänglich, aber im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen schafft es das New Yorker Quintett eben doch, hin und wieder eingängige Melodien oder Riffs in ihren Sound zu integrieren („Wilkinson’s Sword“, „Downhill Racer“).
Es ist am Ende diese Mischung aus musikalischem Gespür und kompromissloser politischer Haltung, die „You Could Do It Tonight“ zu einem außergewöhnlichen Album machen.
Honorable Mention:
Chat Pile – Cool World (Niedergeschlagener Noise Rock, der den Zustand der USA perfekt zusammenfasst)
Nikos Album des Jahres
Opeth – The Last Will and Testament (22.11. Reigning Phoenix)
Fünf Jahre ist es her, dass Opeth eine meiner absoluten Lieblingsbands, das letzte Mal ein Album („In Cauda Venenum“) veröffentlicht hat und ich muss gestehen, dass ich bis heute nicht damit warm werde. Eine gewisse Nervosität herrschte also, als ich mich auf den jüngsten Streich des schwedischen Quintetts einließ. Das neuste Album trägt den Titel “The Last Will and Testament” und was soll ich sagen? Es ist nicht weniger als ein Meisterwerk geworden! Liegt es vielleicht daran, dass Mikael Åkerfeld, Kopf und Mastermind hinter Opeth, das erste Mal seit 16 Jahren wieder auf seine gutturale Stimme zurückgreift? Bestimmt werden sich viele Fans, vor allem viele Oldpeth-Fans, also jene, die die alten Sachen bevorzugen, darüber freuen, jedoch erklärt es noch nicht meine Begeisterung. Musikalisch wird sehr tief in die Trickkiste gegriffen und was dabei rauskommt ist ein Album, welches vor Kreativität, Intensität und Emotionalität nur so strotzt. Dabei schafft Mikael diesen feinen Balanceakt uns als Zuhörende stets mit neuen musikalischen Ausdrucksformen zu überraschen, die eine große Dynamik in das Album bringen, uns dabei aber trotzdem einen roten Faden folgen lassen.
“The Last Will and Testament” trumpft mit einer weiteren Eigenschaft auf: Es ist nämlich ein Konzeptalbum (das erste der Band seit „Still Life“ 1999) und erzählt die Geschichte einer wohlhabenden Familie, die sich nach dem Ableben ihres Patriarchen zur Verkündung seines Testaments zusammenfindet. Dabei kommen dunkle Geheimnisse über das Familienoberhaupt zum Vorschein, die unter anderem Auswirkungen auf die vermeintlichen Erben haben. Das Testament ist in sieben Paragraphen gegliedert, und die ersten sieben der insgesamt acht Songs auf dem Album geben jeweils einen der Paragraphen wieder. Auch die Songtitel reihen sich in diese Struktur ein und heißen schlicht §1 bis §7. Der achte und letzte Titel des Albums „A Story Never Told“ findet zeitlich nach dem Verkünden des Testaments statt und bringt eine überraschende Wendung hervor.
Wie anfangs erwähnt, bin ich begeistert von der musikalischen Vielfalt. Was besonders auffällt ist zum einen die Nutzung von mehrstimmigen Gesangspassagen, die vor allem dann spannend werden, wenn Mikaels gutturale Stimme mit seinen Cleans zusammengebracht wird. Diese Technik wirkt zwar extrem unkonventionell, schafft aber gleichzeitig eine wunderbare Tiefe. Ein weiteres typisches Merkmal vieler Songs ist, dass sie scheinbar aus zwei unterschiedlichen Stücken bestehen, die zusammengemixt wurden. Dabei zeigt sich Mikaels Gespür, komplexe Kompositionen zu kreieren, die sich zu einem stimmigen Gesamtbild fügen, gefüllt mit allerlei Höhen und Tiefen. Trotz der Vielfalt und vor allem der vielen ruhigen Momenten haben wir stets das Gefühl, auf Trab gehalten zu werden. Der letzte Geniestreich folgt mit dem Abschluss, in Form einer Ballade. Diese herzergreifende Komposition fühlt sich nach all der Action an wie die Zigarette nach dem Sex, und es bettet sich zugleich so gut in das Konzept des Albums ein.
Opeth haben regelmäßig bewiesen, dass sie Meister auf ihrem Gebiet sind, aber „The Last Will and Testament“ hat jegliche Erwartungen übertroffen und gehört für mich zu einer ihrer besten Veröffentlichungen überhaupt. Selbst nach Wochen in Dauerschleife finde ich noch neue Feinheiten, die mich in ihren Bann ziehen.