Der August war ein extrem vollgepackter Monat bei mir. Ich war auf meinem ersten Festival seit drei Jahren und im Anschluss habe ich mir den Traum von meinem lang ersehnten, ersten Paris-Besuch erfüllt. Und auch musikalisch hatte der August einige echte Goldstücke zu bieten. Dabei gab es ein sehr spezielles Motte der größten Veröffentlichungen im vergangenen Monat: Schwedischer Melodic Death Metal! Und weil es sich dabei um das Genre handelt, das maßgeblich zu meiner musikalischen Sozialisation beigetragen hat, habe ich dazu natürlich auch einiges zu erzählen (okay, ich habe auch sonst viel zu erzählen - fair enough). Jetzt aber viel Spaß!
1 & 2
Eigentlich muss man sich damit abfinden, dass die eigene Lieblingsband mit der Zeit ihren Stil so verändert, dass man sich selbst nicht mehr 100-prozentig damit identifiziert. Ein „Zurück-in-die-gute-alte-Zeit“, das sich viele Fans häufig wünschen, gibt es in der Regel nicht. So geht es mir beispielsweise mit In Flames. Ihre Alben in den 1990er und 2000er sind elementar für meine musikalische Prägung gewesen, sodass es für mich schwer ist, den Stilwechsel, den die Gruppe seit 2014 vollzogen hat, zu akzeptieren. Ich hasse den neuen Stil der Band nicht, im Gegensatz zu vielen Hardcore-Fans, aber er kommt eben auch nicht an die frühen Klassiker ran. Für alle In-Flames-Fans muss sich die Nachricht Ende letzten Jahres, dass sich fünf ehemalige Mitglieder zu einer neuen Band zusammengeschlossen haben, um den alten Göteborger Melodic Death Metal hochleben zu lassen, deswegen wie ein einmaliges Geschenk angefühlt haben. The Halo Effect: Das sind die Gitarristen Jesper Strömblad und Niclas Engelin, Bassist Peter Iwers, Drummer Daniel Svensson und Sänger Mikael Stanne. Alle Mitglieder waren zu irgendeinem Zeitpunkt (oder im Fall von Engelin sind es sogar noch) aktive und integrale Mitglieder von In Flames. Mit Jesper Strömblad und Mikael Stanne sind sogar zwei Mitglieder, die schon auf dem ersten In-Flames-Album zu hören waren, hier vertreten (auch wenn Stanne nur auf diesem ersten Album sang und deutlich bekannter als Frontman von Dark Tranquillity ist). Gerade Strömblad stand lange wie kein Zweiter für den melodischen Death-Metal-Sound, den In Flames so populär gemacht hat, bis er 2010 die Band aufgrund seiner Drogenabhängigkeit und mentalen Problemen verließ. Die große Frage, die sich an dieser Stelle stellt: Ist Days of the Lost (VÖ: 12.08.) nun In Flames reloaded? Die Antwort darauf ist ein eindeutiges und enthusiastisches – Jein!
Man merkt The Halo Effect zu jeder Zeit an, dass sich hier fünf Freunde, die sich alle schon aus ihren Teenager-Jahren kennen, zusammengeschlossen haben, um die Musik ihrer Jugend auferstehen zu lassen. Um das direkt einmal festzuhalten – dabei ist kein 1990er Jahre Oldschool-Melo-Death-Whorship herausgekommen. Viel mehr nimmt das Quintett diese Einflüsse und gibt Ihnen ein modernes Gewand. Dabei sind natürlich einige Songs entstanden, die vor allem nach den In Flames der 2000er klingen (Feel What I Believe, A Truth Worth Lying For), aber auch At The Gates (Conditional) und Stannes Stammband Dark Tranquillity (In Broken Trust) standen immer wieder hörbar Pate. The Halo Effect schaffen dabei den fast unmöglichen Balanceakt zwischen Nostalgie und Gegenwärtigkeit. Das Album erinnert mich in jeder Sekunde an die gute alte Göteborger-Zeit und trotzdem ist es so eigenständig, dass es perfekt in das Jahr 2022 passt. Am deutlichsten wird das beim Song Last of our Kind, bei dem Triviums Matt Heafy, als einziger Gast auf dem Album, dem Lied im zweiten Teil seine Stimme leiht. Der Song beginnt als klassische Melo-Death-Nummer, ehe ihn Heafys Stimme aus dem klassischen Muster herauslöst und einen ganz eigenen Sound verleiht. Die Fallhöhe für The Halo Effect war gigantisch und die Erwartungen der Fans bei diesem Line-Up enorm. Am Ende haben sie aber alle Versprechen eingelöst und ganz nebenbei mit Feel What I Believe einen meiner Lieblingssongs des gesamten Jahres geschrieben (Und wer weiß, nachdem ich die ersten beiden In-Flames-Singles gehört habe, ist das Duell, welche der beiden Bands das bessere Album veröffentlicht, durchaus spannend. Uns Fans soll es freuen!)
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Nachdem ich die ersten beiden Vorab-Singles des neuen Arch-Enemy-Albums, einer anderen schwedischen Melodic-Death-Metal-Institution, gehört habe, habe ich mich in meinem Juni-Newsletter zu folgendem Statement hinreißen lassen:
„Bei all den Vorab-Singles, die ich bisher vom neuen Arch Enemy Album gehört haben, glaube ich eher nicht, dass das eines der Highlights meines Jahres wird. Der neue, noch melodischere und irgendwie glattere musikalische Ansatz ist nicht so meins. Aber wie man im Englischen so schön sagt: We'll cross that bridge when we come to it.”
Und was soll ich sagen? Asche auf mein Haupt! Nachdem ich Arch Enemys neues Album Deceivers (VÖ: 12. 08.) vollständig gehört habe, kann ich festhalten, dass das eines der unterhaltsamsten Alben in der Band-Diskografie ist. Zwar war der Melodic Death Metal der Gruppe schon immer stärker vom (britischen) Heavy Metal beeinflusst als bei anderen Genre-Kolleg*innen, aber nie zuvor klangen sie so melodisch. Gitarrist und Haupt-Songwriter Michael Amott, der zu den einflussreichsten Melo-Death-Gitarristen aller Zeiten gehört, hat dem Sound fast schon einen Power-Metal-Anstrich gegeben. Power Metal? Ja, Power Metal! Natürlich erwartet euch hier kein Sabaton- oder Dragonforce-Stil, aber vor allem die Gitarren-Leads sind immer so unverschämt catchy, dass sich jeder Power-Metal-Act danach sehnt, diese auf dem eigenen Album zu haben. Kontrastiert wird das Ganze durch die Rhythmus-Sektion, die sich meist in klassischen Melodic-Death-Gefilden bewegt und der Stimme von Alissa White-Gluz. Auch wenn es auf Deceivers mehr Klargesang gibt als auf früheren Arch Enemy-Alben, der größte Teil ihrer Vocals besteht aus klassischem Growling. Dabei wirkt es so, als würde sich White-Gluz in diesem melodischeren Stil deutlich wohler fühlen, denn meiner Meinung nach bietet die Kanadierin hier ihre besten Gesangsleistung jemals (siehe Handshake With Hell für ihre unglaubliche Range). The Watcher (inklusive Video, dass auf dem diesjährigen Wacken Open Air aufgenommen wurde) bietet dabei das perfekte Beispiel für alles was ich beschrieben haben. Natürlich ist das nicht mehr ganz so hart und kantig wie noch vor 10, 15 Jahren, aber es macht einfach verdammt viel Spaß. Und mehr erwarte ich von Musik doch gar nicht.
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Schwedischer Melodic Death die Dritte! Soilwork wurden am Höhepunkt der ersten großen Welle des Göteborg-Sounds 1995 gegründet und auch wenn sie neben den oben schon erwähnten Dark Tranquillity, At The Gates und In Flames zu den stilprägenden Bands dieses Stils zählt, stehen sie doch immer etwas im Schatten der drei genannten. Was verwunderlich ist, denn seit 1998 bringt die Band in schöner Regelmäßigkeit neue Alben heraus, ohne dabei eine große Pause eingelegt (wie At The Gates) oder mal ein richtig schlechtes Album gemacht zu haben (wie In Flames). Ganz im Gegenteil, der Sound des Quintetts hat sich über die letzten Jahre immer weiter verfeinert und mit der 2020er EP A Whisp of the Atlantic hat sich die Band noch weiter für Progressive-Elemente geöffnet. Mit ihrem zwölften Album Övergivenheten (VÖ: 19.08.), was so viel wie Aufgeben oder Verlassenheit bedeutet, ist Soilwork nun eine kleine Sensation gelungen. Die Platte ist nicht nur mein Lieblings-Melodic-Death-Metal-Album dieses Jahres, trotz all der starken Konkurrenz, sondern das beste Soilwork-Material was ich je gehört habe. Im Großen und Ganzen bleibt die Band ihrem Stil treu und verbindet teils extrem schnelle und harte Death-Metal-Passagen mit melodischen und gefühlvollen Refrains, die vor allem von der außergewöhnlichen und warmen Stimme Bjørn „Speed“ Strids leben. Aber wo ich bei der Band früher immer den Eindruck hatte, dass die einzelnen Elemente nicht so richtig gut miteinander harmonieren, ist Övergivenheten ein unglaublich organisches Album – trotz seiner Vielseitigkeit. So Electric Again steigt mit fast schon absurd schnellen Blast-Beats ein, ehe es später in einen folkig anmutenden Gitarren-Violinen-Part kippt, wohingegen Death, I Hear You Calling unverschämt groovy und Rhythmus-orientiert daherkommt. Am besten funktioniert Övergivenheten immer dann, wenn Soilwork sich auf ihre Fähigkeiten verlassen, richtig gute und eingängige Refrains zu schreiben. Der Auftakt- und Titelsong des Albums, Is It in Your Darkness oder Dreams of Nowhere haben sich mir tief in die Gehörgänge geschraubt und lassen mich auch nicht mehr los. Es gibt kein besseres Lob für eine Band, als wenn sie es schafft, ein Album zu schreiben, bei dem ich auch bei einer Laufzeit von über einer Stunde nicht einmal auf die Uhr gucke. Genau das ist Soilwork hier gelungen.
5 & 6
Allen die mich auch nur ein bisschen kennen, wissen um die Bedeutung, die das Wacken Open Air (WOA) für mich hat. Ich war 2007 mit 16 Jahren das erste Mal da und habe einige meiner engsten und wichtigsten Freunde 2009 dort kennengelernt. Dieses Festival war dafür, wie mein Leben sich entwickelt hat, ungemein wichtig. Inzwischen genießt das Festival in Schleswig-Holstein Kultstatus, was nicht zuletzt an der Dokumentation Full Metal Village (2006) und der alljährlich wiederkehrenden Medienberichterstattung über die 75.000 Metalfans, die aus der ganzen Welt in das kleine Dorf pilgern, liegt. Natürlich ist die Kommerzialisierung gerade in den letzten Jahren extrem geworden (ich sage nur die Wacken-Edition der Haribo Gummibärchen) und Auftritte wie die von Heino oder den Höhner (ja, die da-simmer-dabei-Höhner) tun ihr Übriges, dass das Festival in einigen Kreisen der Szene verlacht wird. Neben meinen persönlichen, sentimentalen Gründen gibt es aber auch noch ganz handfeste, aus denen ich das WOA weiterhin für eines der besten und wichtigsten Metalfestivals der Welt halt.
Zum einen ist da das Wacken-Metal-Battle. Dieser Wettkampf ist der weltweit größte Wettstreit für junge Metalbands. Jahr für Jahr nehmen 30 wechselnde Nationen und Regionen von allen Kontinenten teil und können jeweils eine Band nach Wacken entsenden, die dann im offiziellen Festival-Programm spielen dürfen. Dieses Jahr waren so Gruppen aus Aserbaidschan, Indonesien, den Philippinen oder Mexiko dabei. Und auch qualitativ können die meisten Metal-Battle-Bands mit den anderen Acts des regulären Programms problemlos mithalten. Dieses Jahr haben mich die Finn*innen von Plant My Bones (Progressive Psychedelic Metal), die dänischen Symphonic Black Metaller von Lamentari und die japanische Metalcore-Band Sable Hills komplett überzeugt. Letztere haben den Metal-Battle am Ende auch völlig verdient gewonnen. Für einen besonders emotionalen Moment hat der Auftritt des ukrainischen Metal-Battle-Vertreters Eye Tea gesorgt. Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem man in so kurzer Zeit so viele Bands aus den verschiedensten Ecken der Welt kennenlernen kann wie auf Wacken.
Auf der anderen Seite bietet das WOA auch immer Künstler*innen eine Bühne, die man sonst eher selten in Europa zu sehen bekommt. Dieses Jahr hat die indonesische Groove-Metal-Band Voice of Baceprot einen Slot erhalten. Die drei Musikerinnen werden in ihrer Heimat von religiösen Extremisten immer wieder dafür kritisiert, dass sie als Frauen Metal spielen. In den letzten Jahren ist die Band zu einer kleinen Internet-Sensation geworden und es war eine super spannende Erfahrung, sie live erleben zu können.
7
Ich gebe es ja zu: Grindcore ist jetzt nicht das Metal-Subgenre, das ich an einem lauen Sommerabend mit Freund*innen anmachen würde. Mit seiner chaotischen, extremen und teilweise dissonanten Art, gehört Grindcore sowieso zu den Stilen, der selbst in der Metal-Familie eher nischig ist. Dennoch kommen auch aus dieser etwas schmutzigen und etwas ranzigen Ecke einige der größten Metalbands aller Zeiten. Ohne Gruppe wie Carcass oder Napalm Death, die ihre Anfänge in den 1980ern im Grindcore hatten, würden viele Subgenres des Extreme Metal heute nicht so klingen wie sie klingen. Wenn es darum geht eine Band zu nennen, die es wie keine zweite schafft, Grindcore in die Gegenwart zu transportieren, dann sind es die Singapurer von Wormrot. Seit 2007 existiert die Band und hat mit Hiss nun endlich, nach sechsjähriger Pause, ihr viertes Album veröffentlicht (VÖ: 08.07.). Und das Warten hat sich definitiv gelohnt! Wenn man sich die Struktur des Albums anguckt, dann wird eine Eigenschaft des Subgenres direkt deutlich – 21 Songs in 33 Minuten. Hier gibt es keine langen Einleitungen, sondern es geht direkt in die Vollen. Was Wormrot dabei wie kaum eine Band sonst beherrscht, ist dass sie jedem Lied etwas Besonderes mitgibt. Obwohl die Lieder so kurz sind, hat jedes von ihnen einen speziellen Touch. Hier mal eine Hardcore-Punk-Passage inklusive Gang-Shouts, da mal dissonante Streicher und an anderer Stelle wiederum Tremolo-Riffs, die jede Black-Metal-Band vor Neid erblassen lassen. Über allem schwebt dabei die Stimme von Arif Suhaimi, der inzwischen leider seinen Ausstieg aus der Gruppe bekanntgegeben hat (gemeinsam mit seiner Frau Azean, die Wormrot bisher managte). Aber mit so einem Knall kann man sich schonmal verabschieden. Wormrot haben ein Album gemacht, das zwar nicht leicht zugänglich ist, aber dafür die Geduldigen mit vielen Details reichlich belohnt und durchaus das Potenzial hat zum modernen Genre-Klassiker zu werden.
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Mein Untergrund-Highlight des Monats stammt von den US-Amerikanier*innen Dreadnought. Mit The Endless beweist das Quartett aus Denver wieder einmal, wie schrecklich unterschätzt es ist (VÖ: 26.08.). Ich kenne wenige Progressive-Metal-Bands, die das Spiel zwischen laut und leise, introspektiv und intensiv so gut beherrschen. Dass sich The Endless thematisch mit der Frage beschäftigt, ob wir es als Menschheit schaffen können, uns neu zu erfinden und den Planeten zu retten, oder zu einem Ende im Schatten verurteilt sind, verkörpern die Stimmen der beiden Sängerinnen Kelly Schilling (Gitarre) und Lauren Vieira (Keyboard) in Perfektion. Genau wie Schillings trockene Growls und Vieiras sanfter Gesang schwankt die Musik von Dreadnought zwischen ruhigen Klavier-lastigen progressiven Passagen und extremen Death und Black Metal Abschnitten. In seiner gesamten Emotionalität und Dringlichkeit ein bemerkenswertes Album, dass meinen Gefühlszustand im Jahr 2022 perfekt einfängt.
9
Wie es inzwischen gute Tradition ist, kommt hinten raus etwas Locker-Leichtes. Raptore ist eine argentinisch Band, die von Gitarrist Nico Cattoni 2012 in Buenos Aires gegründet wurde. Da Cattoni vor Ort keine Mitmusiker*innen finden konnte, die seinen Standards genügten, ist er nach Europa ausgewandert. Heute lebt er mit seinen drei Mitstreitern in Barcelona und ich sage mal so – der Umzug hat sich definitiv gelohnt. Raptore spielen klassischen Heavy Metal mit modernem Touch. Dabei sehen die vier Musiker nicht nur aus, als hätte man sie frisch aus den 1980ern in das Jahr 2022 gebeamt, nein, sie klingen auch genauso. Auf ihrem zweiten Album Blackfire sprudelt das Quartett vor Spielfreude nur so über und zeigt 30 Minuten lang wie gut Heavy Metal heute sein kann. Und selbst wenn ihr keinen klassischen Heavy Metal mögen solltet, guckt euch das Video ruhig mal an, denn Mamamia! die vier sind schon auch echte Hingucker!
10
Zum Abschluss ein paar weitere Alben, die ich im August gerne mochte:
Wer noch ein bisschen kitschigen Hard Rock für den Spätsommer braucht, ist bei den Schweden von H.E.A.T und ihrem neuen Album Force Majeure genau richtig (VÖ. 05.08.). Ein Speed-Metal-Album das einen Song namens Medieval Cowboys enthält – muss ich mehr sagen? Hell Fire und Reckoning sind eine absolute Gute-Laune-Garantie (VÖ: 12.08.). Über das Debütalbum Space Force der puerto-ricanischen Stoner-Doom-Band MOTHS wollte ich eigentlich ausführlicher schreiben, hatte aber keinen Platz mehr. Deswegen hier mein eindringlicher Hinweis – hört euch diesn verträumten und progressiven 30-Minuten-Space-Trip unbedingt an (VÖ. 12.08.)! Und zum Abschluss nochmal Melodic Death, dieses Mal im Vikinger-Kostüm. Die legendären Amon Amarth haben mit The Great Heathen Army ein neues Album veröffentlicht, das zwar nicht weltbewegend aber immerhin unterhaltsam ist (VÖ. 05.08.).