Meine Halbjahreshighlights 2024 – Part II
Ohne große Vorrede folgt hier den längsten Teil der besten Alben aus dem ersten Halbjahr 2024. Viel Spaß mit den Highlights aus dem März und April!
Judas Priest – Invisble Shield
(NWOBHM, erschienen am 06. März bei Epic Records)
Es ist bereits ein halbes (!) Jahrhundert her seit der Veröffentlichung des Debütalbums von Judas Priest. Bei einer Band, die solange aktiv ist, würde ich normalerweise sagen: Irgendwann reicht es auch mal. Aber wo Legenden wie Metallica oder Iron Maiden im Spätherbst (oder seien wir ehrlich – Winter) ihrer Karriere im besten Fall Mittelmaß veröffentlichen, ist „Invisible Shield“ Heavy Metal der Spitzenklasse. In den besten Momenten muss sich das Album nicht vor den großen Heldentaten der eigenen Vergangenheiten wie „Turbo“ oder „British Steel“ verstecken. „Invisible Shield“ ist ein absolutes Riff-Feuerwerk und vollgepackt mit catchy Melodien, der Star der Show ist aber ohne Frage Rob Halford. Dass der 73-Jährige so kraftvoll klingt und jede Höhe scheinbar spielerisch erreicht, lässt sich eigentlich nur mit dunkler Magie erklären und beweist einmal mehr, dass er DER Metal God ist. Ein Teil von mir hofft, dass Judas Priest es damit gut sein lassen und ihre außergewöhnliche Karriere mit einem absoluten Höhepunkt abschließen. Auf der anderen Seite denke ich mir, solange das Quintett Songs wie „Gates of Hell“, „The Serpent and the King“ oder „As God is my Witness“ abliefert, freue ich mich auch auf Album Nummer 20.
Myrath – Karma
(Progressive Power Metal, erschienen am 08. März bei earMUSIC)
Seit bald zwanzig Jahren sind Myrath die Speerspitze der nordafrikanischen Metalszene. Und spätestens seit dem 2016er-Album „Legacy“ sind sie auch weit über die Grenzen ihres Heimatlands Tunesiens bekannt. Die orientalische Folkelemente, die den progressiven Power Metal des Quartetts durchbrechen, sind so authentisch und wohlüberlegt in die Musik integriert, dass die Band sich eine Ausnahmestellung innerhalb der Szene erspielt hat. Und selbst wenn „Karma“ in seiner Gesamtheit nicht die gleiche Dringlichkeit und Hitdichte hat wie frühere Alben, weiß Malek Ben Arbia immer noch, wie man einen Ohrwurm-Refrain schreibt – und Zaher Zorgatis Stimme ist sowieso über jeden Zweifel erhaben. In den Momenten, in denen sich das Album auf die eigenen orientalischen Wurzeln verlässt, schafft es Myrath wie kaum eine andere Power-Metal-Band, ihren magischen Charme zu versprühen.
Slimelord – Chytridiomycosis Relinquished
(Death Doom, erschienen am 08. März bei 20 Buck Spin)
Chytridiomykose ist eine durch einen Pilz ausgelöste Erkrankung von Amphibien, die weltweit mit für ihr großes Atemsterben verantwortlich gemacht wird. Die genaue Ursache für diese Pilzepidemie ist noch immer unklar. Danach sein Album zu benennen, ist das Level an Weirdness, auf das man sich bei Slimelord einlassen muss. Die Briten gehören zu den Death-Metal-Bands, die selbst für eingefleischte Genrefans eine Herausforderung darstellen können. Unkonventionelle Songstrukturen, dissonante Melodien und schwere schleimige Riffs mäandern 45 Minuten vor sich hin. Das Debüt des Quintetts ist das genaue Gegenteil eines Easy Listenings und würde besser in die stickigen Sumpflandschaften Floridas als ins regnerische England passen. Und doch gelingt der Band etwas, woran viele andere, die mit musikalischen Dissonanzen experimentieren, scheitern: So sperrig das Album auch sein mag, verfolgt es einen klaren roten Faden, an dem wir Hörer*innen uns entlang hangeln können. Immer wieder bricht die Band den stickigen Klangnebel mit einzelnen melodischen Riffs oder rhythmischen Drumpatterns auf und lässt uns in einer kühlen Brise Luftholen. „Chytridiomycosis Relinquished” ist sicher nichts für jede*n (und wer von euch den Albumtitel dreimal hintereinander fehlerfrei aussprechen kann, hat meinen größten Respekt). Wer sich allerdings drauf einlässt, wird mit einem herrlich seltsamen und faszinierenden Hörerlebnis belohnt, wie es nur im Metal existiert.
Dragonforce – Warp Speed Warriors
(Power Metal, erschienen am 15. März bei Napalm Records)
Selbst viele Menschen aus meiner Generation, die absolut nichts mit Metal am Hut haben, kennen Dragonforce seit 2007. Damals wurde ihr Song „Through the Fire and Flames“ in Guitar Hero verwendet und erlangte wegen der absurd schnellen Gitarrenriffs Kultstatus als einer der am schwierigsten zu spielenden Lieder der gesamten Video-Game-Reihe. Bis heute hat sich die Single über eine Million Mal verkauft – nicht schlecht für einen Power-Metal-Song.
Entsprechend wurden Dragonforce lange Zeit innerhalb der Metalszene belächelt. Doch in den vergangenen Jahren hat eine Renaissance des Quintetts eingesetzt, die mich ein wenig an die sich verändernde Wahrnehmung von Nickelback erinnert. Das liegt daran, dass beide Gruppen, bei Dragonforce allen voran die Gitarristen und Bandköpfe Herman Li und Sam Totman, herrlich selbstironisch auf die Witze über sie reagieren.
Auf ihrem neuen Album „Warp Speed Warriors“ embracet die Band ihr Image als etwas alberne Spaßkapelle nun vollständig. Over the top Power Metal at its best! Das ist nicht subtil, aber macht dafür umso mehr Spaß. Und wer mit so viel Leidenschaft „Wildes Dreams“ von Taylor Swift covert, ohne sich bis auf die Knochen zu blamieren, macht musikalisch einiges richtig.
Tonnerre – La nuit sauvage
(Hard Rock, erschienen am 5. April bei Cruz del Sur Music)
Für mich persönlich gibt es keine Sprache, die so perfekt zu Old School Heavy Metal und Hard passt wie Französisch. Die Kanadier*innen von Tonnerre sind das nächste Indiz in meiner Beweisführung. Auf ihrem Debütalbum „La nuit sauvage“, das von einer Nacht unter Freund*innen in der Natur erzählt, geben sie sich ganz dem Retro-Rock à la Blue Öyster Cult hin und zelebrieren ihre Liebe für die 1970er. Der Gesang von Annick Giroux verleiht dem Album dabei das gewisse Extra und macht es zum idealen Soundtrack für ein paar Drinks in netter Gesellschaft an einem lauen Sommerabend.
Necrot – Lifeless Birth
(Death Metal, erschienen am 12. April bei Tankcrimes)
Dass Death Metal nicht nur herausfordernd sein muss wie bei Slimelord, sondern auch Spaß machen kann, beweisen die Amis von Necrot. Das Trio gehört zu den Bands, die in den 2010ern die Renaissance des Old-School-Death-Metals angeführt haben, und zählt bis heute zu deren wichtigsten Vertretern. Ihr drittes Album „Lifeless Birth“ bietet im eigentlichen Sinne auch gar nichts Neues. Wer schon einmal ein Death-Metal-Album aus den späten 1980ern oder frühen 1990ern gehört hat, weiß, was einen erwartet. Necrot aber setzen das bekannte Rezept so extrem gut um, wie es nur wenige Bands schaffen. „Cut the Cord“ oder „Drill the Skull“ sind veritable Death-Metal-Banger und bleiben mit ihren eingängigen Refrains tagelang in meinem Kopf.
Vulture – Sentinels
(Thrash Metal, erschienen am 12. April bei Metal Blade)
Ich bin nicht der größte Thrash-Metal-Fan. Weder von den Glory Days, als Metallica, Slayer und Co. die Welt erobert haben, noch vom sogenannten Pizza Thrash, der in den 2000er-Jahren seinen Anfang nahm und bei dem Bands wie Toxic Holocaust oder Municipal Waste mit Bier-und-Pizza-Lyrics den 1980ern huldigen. Und wenn ich ganz ehrlich bin: Für mich ist das Genre heute tot, weil es einfach nichts Innovatives oder zumindest Aufregendes mehr zu bieten hat. Aber das hier wäre kein Metal-Newsletter, wenn uns nicht hier und da ein paar Zombies über den Weg laufen würde. Denn immer mal wieder gibt es Metalgruppen, die dem Genre neues Leben einhaucht.
Vulture aus dem schönen Dortmund gehören dazu. Sie verpassen ihrem Thrash-Grundgerüst eine gehörige Portion Heavy und Speed Metal und wissen, wie man daraus einen guten, packenden Song schreibt. Auf ihrem vierten Album „Sentinels“ haben sie ihre Formel perfektioniert. Dabei schafft es die Band nicht nur, einige echte Hits rauszuhauen („Unhallowed & Forgotten“ ist eins meiner Lieblingslieder des Jahres), sondern auch auf Albumlänge interessant zu bleiben. Eine Herausforderung, an der gefühlt 99 Prozent aller Thrash- und Speed-Metal-Bands scheitern. Das liegt zum einen an Liedern wie „Der Tod trägt schwarzes Leder“, ein dreiminütiges episches Instrumentalstück, das der Platte die nötige Abwechslung gibt, als auch daran, dass die Band jedem Instrument vertraut. Es geht eben nicht nur um Riffs, Riffs und nochmal Riffs – nein, auch der Bass und die Drums dürfen immer mal wieder ins Scheinwerferlicht. Damit ist „Sentinels“ die perfekte Blaupause dafür, wie ein gutes Thrash-Metal-Album im Jahr 2024 auszusehen hat.
Exist – Hijacking the Zeitgeist
(Progressive Metal, erschienen am 12. April bei Prosthetic Records)
Den US-Boys von Exist gelingt auf ihrem vierten Album „Hijacking the Zeitgeist“ das Kunststück, tatsächlich Progressive Death Metal zu spielen. Weder die Progressive- noch die Death-Seite überwiegen, sondern bilden eine absolut ebenbürtige Symbiose. Die unkonventionellen Songstrukturen und Abwechslungen des Prog (inklusive Saxophon-Einsatz!) und die drückenden Drums und Riffs aus dem Death gehen bei Exist Hand in Hand. Und das Beeindruckendste? Das Album ist gerade einmal 37 Minuten lang. Es ist diese Fähigkeit, sich selbst zu begrenzen, die „Hijacking the Zeitgeist“ zu so einem intensiven Erlebnis macht. Jeder Moment dieses Albums ist durchdacht und auch nur da, wenn er wirklich notwendig für den Song ist. Eine der ganz großen Neuentdeckungen des Jahres für mich.
DVNE – Voidkind
(Progressive Metal, erschienen am 19. April bei Metal Blade)
Man darf sich bei Dvne nicht vom Namen täuschen lassen, der sich natürlich auf Frank Herberts legendäre „Dune“-Bücher bezieht. Im Gegensatz zu vielen anderen Gruppen, die sich damit begnügen, bekannte Sci-Fi- oder Fantasy-Geschichten nachzuerzählen oder neu zu interpretieren, haben die Schotten einen ganz eigenen Kosmos erschaffen, in dem ihre komplexe Sci-Fi-Geschichten spielen. Deswegen habe ich die ersten beiden Alben der Band auch so geliebt: „Asheran“ (2017) und „Etemen Ænka“ (2021) erzählen auf beeindruckende musikalische Weise vom Krieg zwischen den Asheran und Shudran – eine epische Geschichte um Unterdrückung und intergenerationelles Traum (hier habe ich schon einmal ausführlich darüber geschrieben).
Auf „Voidkind“ verlässt die Band nun diesen Fokus aufs Storytelling und konzentriert sich auf die Direktheit der Musik. Ganz unumwunden sagt die Gruppe, dass sie auf ihrem dritten Album mehr Songs haben wollte, die einen größeren Live-Impact haben. Das ist zwar nachvollziehbar, aber auch etwas schade. Zwar bleibt Dvne einer der interessantesten Prog-Metal-Acts mit ihrem Sound, der immer mal wieder in Richtung Sludge à la Mastodon kippt, beraubt sich aber eines ihrer Kernelemente. „Voidkind“ hat auch wieder ein songübergreifendes Konzept und erzählt von einer religiösen Gruppe, die eine Gottheit verehrt, die die Menschen in ihrem Schlaf durch Träume verführt. Die Musik des Albums an sich hat aber weniger den cineastischen Soundtrack-Charakter, der mich an den ersten beiden Dvne-Platten so fasziniert hat. Nichtsdestotrotz haben die Schotten ihr Versprechen, mehr Hits zu schreiben, eingelöst, und Lieder wie „Pleroma“ oder „Abode the perfect Soul“ dürften feste Bestandteil ihres Live-Repertoire werden.
Dool – The Shape of Fluidity
(Doom Metal, erschienen am 19. April bei Prophecy Productions)
Es fällt mir immer noch schwer in Worte zu fassen, wie wichtig Dools letztes Album „Summerland“ für mich war. Im April 2020 veröffentlicht, war es mein Soundtrack der Pandemie. Auf der einen Seite hat die melancholische Schwere perfekt mein Gefühl während der Lockdowns widergespiegelt, auf der anderen Seite hat Dools Musik immer wieder auch Augenblicke der Leichtigkeit und Hoffnung, die mir durch diese Zeit geholfen haben. „Summerland“ war das perfekte Album zur perfekten Zeit und hat mich so berührt wie nur wenig andere in meinem Leben.
Umso größer war meine Erwartungshaltung, aber auch Skepsis gegenüber dem Nachfolger. Wie sollten es die Niederländer*innen schaffen, diesen unverhofften Geniestreich zu wiederholen? Aber ich kann mit großer Erleichterung berichten: „The Shape of Fluidity“ ist ein würdiger Nachfolger von „Summerland“! Das liegt vor allen am dem sehr persönlichen lyrischen Konzept der Platte. Frontperson Raven van Dorst verhandelt darin die eigene Nicht-Binärität und was es mit sich bringt, in einer Gesellschaft zu leben, die erwartet, dass man sich auf eine Form festlegt. An der musikalischen Erfolgsformel rüttelt die Band nicht: Dool klingen auch auf ihrem dritten Album als hätte Patti Smith Black Sabbath gespielt – Doom Metal trifft auf Progressive Rock. „The Shape of Fluidity“ beweist endgültig, dass Dool zu den besten und aufregendsten Bands der gegenwärtigen Rock- und Metalszene gehören.
Couch Slut – You Could Do It Tonight
(Hardcore, erschienen am 19. April bei Brutal Panda Records)
Bei manchen Bands sind die Lyrics bloßes Beiwerk zur Musik und tragen nichts Signifikantes zu ihrer Wirkung bei. Bei Couch Slut hingegen sind sie elementarer Bestandteil der eigenen musikalischen Identität. Sängerin Megan Osztrosits verarbeitet in den Texten eigene Erfahrung mit sexualisierter Gewalt („Couch Slut Lewis“), Drogen („Ode to Jimbo“) oder ihren Mental Health Struggles („CENSORED“). Teilweise geht die Fokussierung soweit, dass die Musik mehr oder weniger Beiwerk einer Spoken-Words-Passage ist wie in „The Donkey“. Musikalisch werden diese schweren Themen mit einer Mischung aus Sludge Metal und NYC-Hardcore-Punk begleitet, immer wieder von rohen Black-Metal-Elementen durchbrochen.
„You Could Do It Tonight” ist in seiner gesamten Wirkung ein herausragendes Album, weil es die Verzweiflung, Wut und Frustration der Ich-Erzählerin musikalisch so perfekt einfängt. Und es ist ein Album, das zeigt, dass manche Musik nur an ganz bestimmten Orten gemacht werden kann. Couch Slut könnten aus keiner anderen Stadt der Welt außer New York City stammen. Ihr Sound trägt die bewegte Geschichte der Stadt, insbesondere der ihren Künstler*innen seit den 1960ern, tief in sich.
Dolmen Gate – Gateways Of Eternity
(Epic Heavy Metal, erschienen am 26. April bei No Remorse Records)
Manchmal braucht es bei einem Album nur wenige Sekunden und ich weiß genau, dass ich es lieben werde. „Gateawyas of Eternity“ eröffnet mit einer ruhigen Akustikgitarren-Melodie, die auch aus einem der „Herr der Ringe“-Filme hätte stammen könnte, ehe sich nach circa dreißig Sekunden die Stimme von Frontfrau Ana in all ihrer Kraft entfaltet und uns auf eine epische Reise mitnimmt. Was folgt, ist eine Mischung aus Epic Heavy Metal, Power Metal und Doom mit einer gehörigen Portion Retro-Charme, sowohl was die Produktion als auch den Sound der Gitarren und des Basses angeht. Und über allem schwebt die herausragende Stimme von Sängerin Ana, die das Album von einem guten zu einem herausragenden erhebt. Mit ihrem Debüt haben die Portugies*innen von Dolmen Gate für frischen Wind in einem Jahr gesorgt, das mit Heavy-Metal-Highlights geizt.
Wo ist eigentlich Teil 3 geblieben? 😉