Es ist sowas wie die letzte Oase der Glückseligkeit in der Musikindustrie: Bandcamp. Und mit diesem Statement übertreibe ich nicht. Die Plattform bietet Musiker*innen Möglichkeiten, ihre Arbeit zu vermarkten, die sich in der modernen Musikindustrie sonst nicht finden lassen. Digitale und physischen Alben, einzelne Songs, Merchandise – all das können Künstler*innen über Bandcamp verkaufen. Die Plattform behält zudem nur einen relativ geringen Teil der Einnahmen für sich (zwischen zehn und fünfzehn Prozent). Diese Margen und das transparente Informieren darüber, wie viel Geld bei den Artists landet, ist Teil der Fair Trade Music Policy des Unternehmens. Gerade für kleinere, unabhängige Gruppen ist Bandcamp eine Lebensversicherung, die es ihnen ermöglicht, mit ihrer Kunst zumindest ein wenig Geld zu verdienen und nicht ausschließlich vom Touren zu leben. Besonders während der Coronapandemie hat Bandcamp bewiesen, dass die Verantwortlichen ihre Versprechen ernst nehmen. Als Konzerte unmöglich wurden, schuf die Plattform den Bandcamp Friday und verzichtet seitdem am ersten Freitag im Monat auf alle Gebühren: Jeder Cent, den Fans ausgeben, landet direkt bei den Musiker*innen. Es klingt wirklich wie das gallische Dorf, das sich hartnäckig gegen die profitgetriebene restliche Musikindustrie zur Wehr setzt. Aber all das könnte bald vorbei sein.
Vor gut einem Monat hat das Musik-Lizenzierungsunternehmen Songtradr Bandcamp gekauft und als erste Amtshandlung direkt fünfzig Prozent der Angestellten entlassen. Diese Maßnahme hat Schockwellen insbesondere durch die Untergrund-Musikszene gejagt. Es fühlt sich an, als sei die Profitgier nun auch in diese letzte Oase für Musikliebhaber*innen eingefallen. Das hat auch den Metal stark getroffen, denn viele Underground-Metalbands leben von Bandcamp als Vertriebssystem. Mir fallen auf Anhieb sogar ein gutes Dutzend Bands ein, die ihre Musik bewusst auf keiner anderen Plattform zur Verfügung stellen, also auf Spotify und Co. verzichten, um durch digitale Albumverkäufe auf Bandcamp zumindest etwas Geld mit ihrer Arbeit zu verdienen.
Die ungewisse Zukunft fällt in eine Zeit, in der es besonders für kleinere Gruppen immer schwieriger wird, überhaupt von ihrer Musik zu leben. Konzertlocations erhöhen die Gebühren für Merchständen und schneiden so direkt in den bisher größten Einnahmenposten vieler Musiker*innen. Und Spotify hat angekündigt, ab 2024 Geld nur noch für Songs auszuschütten, die innerhalb eines Jahres mehr als 1.000 Mal gestreamt wurden. In dieser Gemengelage könnte ein Ende von Bandcamp unvorhersehbare Folge für die Musikszene haben. Was die Zukunft genau bringen wird, ist Stand heute völlig unklar. Songtradr hat angekündigt, das Geschäftsmodell und die Philosophie von Bandcamp nicht antasten zu wollen. Wie viel solche Versprechen neuer Investoren wert sind, hat die Vergangenheit aber zur Genüge gezeigt.
Und wir als Fans, was können wir tun? Nun ja, zum einen sollten wir unsere Lieblingskünstler*innen so lange unterstützen, wie es Bandcamp noch gibt. Also kauft zu Weihnachten Alben, Shirts oder Sweater für eure Lieblingsmetalheads! Für mich persönlich habe ich für das kommende Jahr außerdem den Vorsatz gefasst, ganz generell die Art und Weise zu hinterfragen, wie ich Musik höre. Spotify hat in der Vergangenheit mit der gesamten Marktmacht, die der Konzern besitzt, bewiesen, dass das Wohlergehen der Musiker*innen alles andere als ihre Priorität ist. Deswegen spiele ich mit dem Gedanken, zu Tidal zu wechseln. Die Plattform hat nicht nur die höchste Vergütung per Stream (als einzige mir bekannte deutlich über ein Cent pro Stream, fast viermal so viel wie Spotify), sondern bietet für die Musiker*innen auch direkte Vergütungssysteme an.
Was ist neu? Was ist gut?
Ab dem 1. Dezember werde ich den Countdown meiner 40 Lieblingsalben 2023 starten. Das heißt viele der Alben, die im Herbst erschienen sind (traditionell die Jahreszeit mit den besten Metal Releases) tauchen dort auf. Um in den kommenden Wochen nicht alles doppelt und dreifach zu schreiben, werde ich mich über die ganzen großen Highlights noch in Schweigen hüllen.
Heaven or Hell?
Endlich wieder eine Kontroverse! Und wieso freue ich mich darüber so? Weil es sich um eine musikalische Kontroverse handelt und ich mit starken Meinungen sofort an Bord bin. Dieses Mal geht es um Code Orange. Die Amis waren in den vergangenen Jahren ein Kandidat für das Next Big Think im Metal. Ihre Mischung aus Metalcore, Noise und Alternative Metal hat einen Nerv getroffen. Insbesondere ihr 2020er Album „Underneath“ ist für mich eins der besten Extreme-Music-Alben dieses Jahrtausends. Und so hoch die Erwartungen vor der neuen Platten waren, so groß war die Verwunderung, als die Band „Take Shape“ veröffentlichte: eine astreine Nu-Metal-Nummer (inklusive Gastauftritt von Billy Corgan).
Von unten geht es auf dem vierten Album von Code Orange nun nach oben. „The Above“ ist dabei in vielerlei Hinsicht eine musikalische Zäsur. Zum einen gibt sich das Quintett ganz ihrer Liebe für den Nu und Alternative Metals der späten 1990er und 2000er hin. Zum anderen nimmt Gitarristin Reba Meyers auch stimmlich eine immer größere Rolle ein. So findet sich mit „Mirror“ ein Song auf dem Album, bei dem Meyers Stimme im Mittelpunkt steht und lediglich von dezenter musikalischer Untermalung begleitet wird. Ein Song, der auch auf einem Fiona-Apple-Album nicht wirklich fehl am Platz wäre. Dafür hat die Band von ziemlich vielen Fans und Kritiker*innen, sagen wir es direkt, ganz schön auf die Fresse bekommen. Sie hätten ihren musikalischen Kompass verloren, das sei alles eine Anbiederung an den Kommerz und sowieso wisse die Band gar nicht, was sie eigentlich sein will.
Ich hingegen finde, Code Orange sind so vielfältig wie nie zu vor, und nachdem ich selbst anfangs skeptisch war, liebe ich das Album inzwischen in all seinen Facetten. Egal, ob die Band sich ganz dem Alternativ Metal hingibt („But A Dream…“), ihre chaotische Metalcore-Seite zelebriert („A Drone Opting Out oft he Hive“) oder weiter in Nu-Metal-Gefilden fischt („The Mask of Sanity Slips“), der durch Samples zersetzte Sound mag anecken, fesselt mich jedes Mal aufs Neue. Das Album hat sicher nicht die Rohheit und Dringlichkeit von früheren Veröffentlichungen, es zeigt aber, dass Code Orange wandelbar sind und an allem Interesse haben, außer an Stillstand.
Death Metal Madness
Zukünftige Historiker*innen werden analysieren müssen, was seit Mitte der 2010er mit Death-Metal-Musiker*innen passiert ist. Es ist unglaublich, wie viele qualitativ hochwertige Alben in diesem Genre jedes Jahr erscheinen, gleich, ob Alteingesessene oder Nachwuchsband, gleich, ob Melodic, Brutal, Technical, Progressive oder Old School. Death Metal feuert aus allen Rohren und ich könnte problemlos eine Top 25 meiner Lieblings-Death-Metal-Alben 2023 veröffentlichen. Angesichts der schieren Mengen an herausragenden Releases gibt es hier nur eine kurze Liste mit Highlights aus dem Herbst, die ihren Weg (vielleicht) nicht in meine Top 40 schaffen.
Dying Fetus – Die Brutal-Death-Metal-Pioniere klingen auf ihrem neunten Album „Make Them Beg for Death“ so wütend und aggressiv wie eh und je und bilden damit bis heute den Maßstab, wie es im Extreme Metal auch intelligent auf die Schnauze geben kann.
Cryptopsy – Es ist der Fluch der guten Taten. Die Kanadier haben 1996 mit „Non So Vile“ einen Klassiker des Technical und Progressive Death Metal veröffentlicht, der seitdem ständig als Blueprint für das Subgenre herhalten muss. Sechs Alben später, die allesamt nicht an das eigene Opus Magnus herankamen, und elf Jahre, nachdem sie überhaupt eine LP veröffentlicht haben, gelang ihnen nun, was wohl nur noch die wenigstens für möglich gehalten haben: „As Gomorrah Burns“ ist der Nachfolger den „Non So Vile“ verdient hat, und eine der besten Platten der Bandgeschichte.
Tomb Mold – Kanada ist ein gutes Pflaster, wenn es um anspruchsvolle Spielarten des Death Metals geht. Tomb Mold gehörten zu den Bands, die in den 2010er das große Death-Metal-Comeback mit eingeleitet haben. Mit ihrem vierten Album „The Enduring Spirit“ haben sie jetzt den vorläufigen Höhepunkt ihrer Karriere erreicht. Mal Progressive, mal melodisch aber immer mit unglaublicher Sogkraft erzählen Tomb Mold ihre kosmischen Geschichten.
Sulphur Aeon – Mit einer gehörigen Portion Black-Metal-Einfluss ist das deutsche woher? Gespann Sulphur Aeon unterwegs. „Seven Crowns and Seven Seals“ ist alles andere als leichte Kost und eine der ungemütlichsten Hörerlebnisse des gesamten Jahres für mich – was hier definitiv als Kompliment zu verstehen ist.
… und was ist aus Thrash geworden?
Mit „Death Metal hui, Thrash Metal pfui“ könnte man den Stand der beiden Genres zusammenfassen. Es ist wirklich faszinierend, wie wenig gute Thrash-Metal-Alben in den vergangenen Jahren erschienen sind. Insbesondere der Tod von Power-Trip-Sänger Riley Gale im Jahr 2020, der mit seiner Band dabei war, dem Genre eigenhändig neues Leben einzuhauchen, hat ein Lücke hinterlassen, die bisher niemand füllen konnte.
Auch dieses Jahr ist es wieder verhältnismäßig still in einem der ikonischsten Metal-Subgenres. Nervosa, deren letztes Album „Perpetual Chaos“ (2021) mir noch sehr gefallen hat, hat zwar mit „Jailbreak“ etwas Neues veröffentlicht, mehr als ein Schulterzucken konnte mir das Album aber leider nicht entlocken. Das ist alles nicht schlecht und ein paar Perlen hier und da gibt es auch (siehe „Seed of Death“), aber irgendwie habe ich ständig das Gefühl, das habe ich von Nervosa schon mal gehört – nur in besser. Trotzdem drücke ich Bandgründerin, Gitarristin und seit diesem Album auch Sängerin Prika Amaral für die Zukunft die Daumen. Vielleicht hilft etwas mehr Routine am Mikro ja, sich wieder vermehrt auf das Songwriting zu konzentrieren. Denn dass sie eine wirklich gute Stimme hat, das beweist Amaral auf „Jailbreak“ allemal.
Zwei Highlights für alle Thrash-Metal-Fans habe ich dann aber doch. Gama Bomb haben sich in den letzten zwanzig Jahren sowieso den Ruf erarbeitet, sich selbst und das Genre nicht allzu ernst zu nehmen. Auf ihrem achten Album „BATS“ dreht das Quartett aber nochmal kräftig an der Skurrilitätsschraube. Eine Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen DJ The Egyptian Lover für eine Oriental-Thrash-Nummer? Klar! Saxofon-Solo? Sicher doch. Ansonsten partytauglicher Thrash Metal, der sich nicht zu schade ist, auch mal außerhalb der Genregrenzen zu wildern.
Klassisch wird es bei den Spaniern von Angelus Apatrida, die in ihrer Heimat zu den kommerziell erfolgreichsten Metalbands zählen. Auch auf ihrem achten Album „Aftermath“ gibt es Thrash Metal in der Tradition der Bay Area. Das klingt alles ein bisschen so, als hätten Slayer ihre Liebe für große Melodien entdeckt, ohne an Aggressivität einzubüßen. Für Fans der 1980er US-Szene ein absolutes Muss.
Rausschmeißer
Und zum Abschluss gibt es wie immer eine kleine Auswahl an Alben aus dem Power und Heavy Metal.
Zwiegespalten bin ich bei den US-Amerikanern von Theocracy. „Mosaic“ ist das erste Album der Band seit sieben Jahren, und die ersten sechs Tracks haben mich wirklich umgehauen. Das ist Power Metal nach guter europäischer Tradition der 2000er. In einem Online-Kommentar wurde der Stil als „Sonata-Arcticore“ bezeichnet, und das ist einfach eine perfekte Beschreibung. Diese erste Hälfte des Albums ist so extrem gut, dass ich der Band dort auch ihre katholischer-Jugendpriester-Vibes bei den Lyrics verzeihe. Allerdings verliert mich die Band zum Ende genauso schnell, wie sie mich anfangs gewonnen hat. Das Album schließt mit „Red Sea“, das die Geschichte erzählt, wie Moses das Meer spaltet und 20 Minuten (!!!) lang ist. Musikalisch rechtfertigt nichts diese Laufzeit und für eine Bibelstunde höre ich nun wirklich kein Metal. Als Album funktioniert „Mosaic“ also nicht, aber einzelne Songs gehören zu dem Besten, was ich dieses Jahr im Power Metal gehört habe.
Manchmal tritt Musik in den Hintergrund. Kurz nach der Veröffentlichung ihres zwölften Albums „Firestar“ gab die Hamburger Power-Metal-Band Iron Savior bekannt, dass ihr Sänger und Bandgründer Piet Sielck an Krebs erkrankt ist. Eine geplante Tour musst abgesagt werden. Gute Besserung an dieser Stelle!
Iron Savior sind dabei eine echte deutsche Metalinstitution. Gegründet 1996 standen sie allerdings immer im Schatten von Helloween und Gamma Ray. Daran wird auch „Firestar“ nichts mehr ändern. Aber das muss es auch gar nicht. Die Band weiß ganz genau, wer sie ist und wofür sie steht: klassischer Power Metal. Und das macht auch auf der neuen Platte extrem gute Laune. Hier wird das Rad nicht neu erfunden, aber wer den Sound der eben genannten Helloween, Gamma Ray oder auch Blind Guardian der 1990er vermisst, wird hier sein Glück finden.
Aus dem Nichts sind die Zypriot*innen Receiver auf der Metalbühne erschienen. Kein Demo, keine Kompilation, keine EP, nichts. Von 0 auf 100 hat die Band ihr Debütalbum „Whsipers of Lore“ veröffentlicht und damit ein echtes Brett hingelegt. Es ist kaum zu glauben, dass auch die einzelnen Bandmitglieder keine (bekannte) Vergangenheit in anderen Gruppen haben. Receiver liefern auf ihrem Debüt acht perfekte Songs im Stile des Traditional Heavy Metal ab. Man hört den Nummern ihre großen Vorbilder wie Iron Maiden (der galoppierende Bass!) oder Dio (zB „Falling to Dust“) zweifelsohne an, aber das Quintett besitzt so ein gutes Händchen fürs Songwriting, dass sie trotzdem allen ihren eigenen Stempel verpassen. Das liegt nicht zuletzt an der außergewöhnlichen Stimme von Nikoletta Kyprianou. Ein außergewöhnliches Debüt!