Es ist schon etwas bizarr. Mein Newsletter feiert zweiten Geburtstag und geht damit in sein drittes Jahr. In den vergangenen beiden Jahren habe ich über 200 Bands und Alben besprochen und ich kann euch versprechen – ich werde nicht so schnell damit aufhören. Mein großer Dank geht an alle, die sich Monat für Monat die Zeit nehmen, meine Gedanken über Metal zu lesen. Ich freue mich auch 2023 darauf, mit euch zu diskutieren und neue Musik zu entdecken.
1
Mein erstes persönliches Highlight in diesem Jahr war das neue Album der Progressive- und Post-Metal-Ikonen Katatonia „Sky Void of Stars“ (VÖ: 20.02.). Die Schweden gehören zu meinen absoluten Lieblingsbands und haben im Laufe ihrer Karriere eine stilistische Verwandlung hingelegt, die nicht viele Bands von sich behaupten können. In den 1990ern gehörten sie zu den Pionieren des Death Dooms und haben einige Genre-Klassiker wie „Brave Murder Day“ (1996) veröffentlicht. Spätestens mit dem Beginn der 2000er öffneten sich Katatonia, insbesondere die Gründungsmitglieder Jonas Renkse (Gesang) und Anders Nyström (Gitarre), immer mehr für neue Einflüsse. Seitdem haben Gothic, Progressive und Post Metal, aber auch Elektro- und Jazz-Elemente Einzug in den Sound der Band gehalten. Das hat dazu geführt, dass sich Katatonia in den Weiten des Metal-Kosmos eine eigene kleine Nische geschaffen haben und zu den Bands gehören, die einen unverwechselbaren, eigenen Klang haben, den jede*r sofort mit ihnen verbindet.
Deswegen ist „Sky Void of Stars“ auch typisch Katatonia und gleichzeitig völlig anders als alles, was sie bisher gemacht haben. Das verbindende Element aller Alben der Schweden ist sicher die emotionale Schwere und Melancholie, getragen durch Renkses unvergleichliche Ausnahmestimme, die über den Liedern liegt. Im Gegensatz zu den bisherigen Veröffentlichungen wirkt das immerhin schon zwölfte Album der Band größer und mutiger. Aus fast jeder musikalischen Epoche der Band, abgesehen vielleicht von den frühen Death-Metal-Wurzeln, finden sich Elemente in einzelnen Songs wieder – aber eben aus dem Blickwinkel der 2020er interpretiert. Mit „Austerity“ eröffnet das Album eine relativ schnelle, drückende Prog-Metal-Nummer, wohingegen „Opaline“ die Vorliebe der Band für träumerische Synth-Landschaften in den Vordergrund stellt. „Author“ – ein wenig der Titeltrack des Albums – erinnert an die Doom-Metal-Ursprünge Katatonias und der Album-Closer „No Beacon To Illuminate Our Fall“ verabschiedet die Hörenden mit einem verletzlichen Gothic-Stück.
So steht am Ende ein absolutes Highlight in der Diskografie einer der besten Progressive-Metal-Bands aller Zeiten. Solltet ihr Katatonia noch nicht kennen, dann ist „Sky Void of Stars“ der perfekte Einstieg. Nicht nur, weil es ein traumhaft schönes Album ist, das perfekt in die kalte Jahreszeit passt, sondern weil es einen Querschnitt dessen bietet, was Renkse, Nyström und Co. bisher in ihrer Karriere erreicht haben.
2
Fünf Jahre ist seit dem zweiten Album der niederländischen Band For I Am King vergangen – eine ungewöhnliche lange Zeitspanne zwischen Album Nummer 2 und 3, insbesondere für eine Metalcore-Band. Allerdings hat sich das Warten gelohnt, denn das Quintett um Frontfrau Alma Alizadeh klingt auf „Crown“ so erwachsen und vielseitig wie nie zuvor. Man merkt ihnen an, dass sie in den vergangenen Jahren ziemlich genau hingeschaut haben, was in der Szene so passiert. Auch wenn die Niederländer*innen nicht ganz so experimentierfreudig und vielschichtig wie Rolo Tomassi oder Ithaca sind oder so hart und episch wie Lorna Shore klingen, finden sich auf „Crown“ doch Elemente, mit denen auch die genannten Gruppen spielen. For I Am King kennen und nutzen die musikalischen Trends der Szene, ohne sich ihr anzubiedern. Was mich besonders freut, ist, dass sie sich kurzzuhalten! Mit gerade einmal 36 Minuten weiß das Album was es will: Ankommen, alles verwüsten, wieder abhauen. So soll es sein. Mit dem letzten Song „Disciples“ haben For I Am King dazu eine veritable Bandhymne geschrieben, die in Zukunft sicher auf keinem Konzert fehlen wird. Ein rundum gelungenes Comeback, dem ich nur eine Bitte anschließen möchte – lasst uns nicht wieder fünf Jahre auf neue Musik warten.
3
Es ist der Sommer 2003 und ich bin das erste Mal in meinem Leben in Berlin. Begeistert betrete ich mit meiner Mutter das KaDeWe, dieses Symbol der westdeutschen Konsumgesellschaft. Von meinem ersparten Taschengeld kann ich mir ein Album aussuchen. Meine Wahl fällt auf „Love Metal“ der finnischen Gothic-Rocker HIM. Wie für viele Menschen aus meiner Generation, waren HIM mit Alben wie „Greatest Lovesongs Vol. 666“, „Razorblade Love“ und eben „Loven Metal“ auch für mich absolute Idole, allen voran natürlich wegen ihres charismatischen Frontmans Ville Valo. Als sich die Gruppe 2017 schließlich auflöste, hat das in meiner Welt zwar schon niemanden mehr so richtig interessiert, aber ihre Songs aus den 1990ern und frühen 2000ern laufen bis heute auf vielen Partys von Millennials.
Für alle, die HIM vermissen, gibt es gute Nachrichten, denn am 13. Januar hat Ville Valo unter dem Namen VV seine Solokarriere gestartet und das Album „Neon Noir“ veröffentlicht. Und der Sound dieses Albums ist im besten wie im schlechtesten Sinne eine Fortschreibung der HIM-Diskografie, dass man sich fragen muss, wieso sich die Band überhaupt aufgelöst hat. Im besten Sinne, weil Valos Stimme nichts von ihrer Qualität verloren hat. Man kann sich sofort dem einnehmen Klang seines Gesangs hingeben. Das Problem, das ich mit „Neon Noir“ habe, ist aber dasselbe, was ich mit den Veröffentlichungen seiner Stammband nach 2005 hatte – es wirkt vieles beliebig und uninspiriert. Versteht mich nicht falsch, es finden sich auf dem Album durchaus gute Lieder. „Echolocate your love“ zum Beispiel hätte auch problemlos auf einem der ersten HIM-Alben erscheinen können und in „Neon Noir“ oder „Baby Lacrimarium“ klingt Valos Stimme so gut wie seit bestimmt 20 Jahren nicht mehr. Aber insgesamt hat das Album mit einer Spielzeit von fast einer Stunde zu viel Material, das mir völlig egal ist. Wenn ihr also Ville Valo und HIM total vermisst, dann macht ihr mit „Neon Noir“ von VV sicher nichts falsch. Aber mehr als eine kurze Befriedigung der eigenen Nostalgie findet man hier leider nicht.
4 & 5 & 6
Es ist der Beginn des neuen Jahres und das bedeutet auch, dass es sich lohnt, einmal voraus zu schauen, auf welche Neuerscheinungen wir uns freuen können. Das am sehnsüchtigsten erwartete Metal-Album 2023 ist ohne Frage „72 Seasons“ von Metallica. Die Legenden des Thrash Metals und größte Metal-Band aller Zeiten werden am 14. April ihr elftes Studioalbum veröffentlichen. Die Vorab-Single „Lux Æterna“ wurde in der Metal-Community zwar äußerst zwiespältig aufgenommen, aber ich finde die Nummer, die eine Verbeugung vor dem Sound Motörheads ist, ganz spannend und bin wirklich neugierig was James Hetfield und Co noch im Tank haben.
Das Album, auf das ich mich persönlich am meisten freue ist, aber „Foregone“ von In Flames (10.02.). Die schwedischen Melodic-Death-Metal-Ikonen sind die mit Abstand wichtigste Band in meiner musikalischen Sozialisation, und umso mehr tat es mir weh mitzubekommen, in welche Richtung die Band sich in den 2010ern bewegt hat. Immer einfacher, zugänglicher, stadiontauglicher und unter dem Strich langweiliger. Nun haben In Flames aber bereits fünf Lieder des neuen Albums veröffentlicht und irgendetwas muss in den vergangenen Jahren passiert sein, denn es ist Ewigkeiten her, dass die Band so roh und aggressiv klang. So hege ich die vage Hoffnung, dass es auf „Foregone“ back to the roots heißt. In meinem Februar-Newsletter berichte ich dann ausführlich, wie gut das Album ist.
Zum Abschluss noch einige andere Bands, die (wahrscheinlich) neue Alben veröffentlichen werden, und die ganz groß auf meinem Radar sind. Die britischen Prog Metaler von Haken melden sich mit „Fauna“ zurück. Finnlands melancholischste Melodic-Death-Metal-Band Insomnium veröffentlicht im Februar „Anno 1696“. Im gleichen Monat werden auch Avatar, eine der besten Live-Bands, die ich je gesehen habe, mit „Dance Devil Dance“ zurückkommen. Und weil aller guten Dinge drei sind, veröffentlicht auch Schottlands Ein-Mann-Blackened-Speed-Metal-Maniac Hellripper im Februar neues Material, das auf den schönen Namen „Warlocks Grim & Withered Hags“ hören wird. Außerdem gibt es Gerüchte, dass Bands wie die US-Metaller Avenged Sevenfold und Deutschlands aktuell heißester Metal-Export The Ocean Collective 2023 mit neuen Alben aufwarten. Ein Album, auf das ich mich ganz besonders freue und das alle Gatekeeper in die Weißglut treiben wird, ist außerdem Babymetals „The Other One“, dem ich mich ausführlich im März widmen werden. Die japanische Band, die Metal mit J-Pop verbindet, sorgt seit ihrem Debüt 2014 für polarisierende Reaktion. Ihr seht also, völlig überraschend ist Langeweile auch im Metal-Jahr 2023 ausgeschlossen.
7
Der Januar ist aber nicht nur der Monat, in dem ich nach vorne gucke, sondern auch der, in dem ich zurückblicke auf das, was ich verpasst habe im vergangenen Jahr. Denn es gibt ein Album, das ich definitiv zu spät auf meinem Radar hatte: Chat Pile mit „God’s Country“. Die Band aus Pittsburgh war mit ihrem Debütalbum der Best-of-2022-Listen-Darling der meisten Kritiker*innen und ich kann total verstehen wieso. Die Band hat einen Sound, der sehr speziell ist und sich nicht so richtig in aktuelle Genre-Kategorien einteilen lässt. Chat Pile selbst beschreiben ihre Musik als Noise Rock mit Sludge-Metal- und Hardcore-Einflüssen, aber wenn ihr mich fragt, klingt das eher wie eine Version von extremen Grunge. Stellt euch vor, Pearl Jam und Sonic Youth wären in den 1990er auf die Idee gekommen, gemeinsam eine Hardcore-Punk zu gründen, dann habt ihr eine ungefähre Idee davon, wie „God’s Country“ klingt – oder auch nicht. Dazu kommen politische Texte, die sich vor allem gegen die Ausbeutung innerhalb unserer kapitalistischen Gesellschaften richten, und fertig ist ein beeindruckendes Debüt. Mir ist das an einigen Stellen zu monoton und ungeschliffen, aber ich bin neugierig darauf, was die Zukunft für Chat Pile bringt.
8
Auch wenn 2023 erst wenige Wochen alt ist, gab es bereits ein erstes Album, das mich völlig aus den Socken geworfen hat – Ahab mit „The Coral Tomb“ (VÖ: 13.01.). Bei Ahab handelt es sich um eine deutsche Doom-Metal-Band, die ihre Musik selbst als Nautik Doom bezeichnet. Der Zusatz „Nautik“ ist hier wörtlich zu verstehen, denn ein entscheidender Teil der Bandidentität ist ihre thematische Auseinandersetzung mit Geschichten, die sich um das Meer drehen. Auf dem neuen Album widmet sich das Quartett nun Jules Vernes „20.000 Meilen unter dem Meer“, und das auf musikalisch wirklich herausragende Art und Weise. Das Album beginnt mit einem kleinen Schock – harte Riffs und Drumming, Growls und Scream zeigen die extreme Seite der Band, ehe sich nach knapp 90 Sekunden die Wogen glätten und sanfte Gitarrenklänge und Gesang übernehmen. In den ersten zwei Minuten macht das Album schon sehr deutlich, was es sein will – die Metalversion eines Soundtracks. Und das gelingt Ahab sensationell. „The Coral Tomb“ wirkt tatsächlich wie eine Vertonung von Jules Vernes Geschichte, aber anstatt Professor Aronnax auf Kapitän Nemos U-Boot zu begleiten, sind wir den Monstern der Tiefsee ganz nahe. Die Band spielt so geschickt mit Atmosphäre und Melodien, dass selbst ich als jemand, der Funeral Doom, so das eigentliche Genre Ahabs und seines Zeichens die langsamste und düsterste Version des Doom Metas, nicht so viel abgewinnen kann, mich in das Album verliebt habe. Was bleibt mir sonst noch zu sagen? Kuschelt euch in eine Decke, macht euch einen Tee und steigt mit Ahab hinab in die Tiefen der Weltmeere!
9
Ich weiß nicht, woran es liegt, aber viele der Gründungsväter des Death Metals erleben gerade ihren zweiten (oder dritten, oder vierten) Frühling. Haben uns mit Cannibal Corpse (2021) und Immolation (2022) zwei der wichtigsten Old-School-Death-Metal-Bands mit erstaunlichen guten Veröffentlichungen verwöhnt, so ziehen jetzt Obituary mit ihrem elften Album „Dying of Everything“ nach (VÖ: 13.01.). Das Quintett aus Florida gehört dabei nicht nur zu den Death-Metal-Gruppen der ersten Stunde, sondern hat auch ein erstaunlich stabiles Line-Up seit den 1980er. Mit den Brüderpaar John und Donald Tardy (Gesang und Schlagzeug) und Gitarrist Trevor Peres finden sich noch drei Gründungsmitglieder in der Band. Nicht schlecht für eine Gruppe, die 1989 ihr Debüt veröffentlicht hat! Das eigentlich überraschende an Obituary und insbesondere „Dying of Everything“ ist aber, dass die Musik auch nach über 30 Jahren immer noch so unglaublich frisch und hungrig klingt. Klar, die US-Amerikaner machen Old School Death Metal, wie er im Buch steht, es gibt keine Ausflüge in andere Genres oder musikalische Experimente, aber das, was sie machen, machen sie mit so viel Leidenschaft und Spielfreude, dass sich so manche Nachwuchsband davon noch eine Scheibe abschneiden kann. Insbesondere „The Wrong Time“ und „My Will to Live“ sind perfekte Death-Metal-Songs und der Beweis, dass auch dieses Genre echte Hits produzieren kann (naja, fast jedenfalls). Zu guter Letzt geht ein besonderer Shoutout an Sänger John Tardy. Wie unverbraucht und kraftvoll seine Stimme im Jahr 2023 klingt, übersteigt meine Vorstellungskraft. Und so hat es die Band mehr als verdient, dass sie über 35 Jahre nach ihrer Gründung erstmals in die Top 10 der deutschen Albumcharts gelandet ist. Herzlichen Glückwunsch!
10
Hier einige weitere Alben, die ich im Januar mochte:
Die schwedischen Power-Metal-Band Twilight Force hat mit „At the Heart of Wintervale“ das aberwitzigste Album ihrer Karriere veröffentlicht. Catchy Melodien, große Refrains, episches Storytelling. Wenn ihr keinen Power Metal mögt – Finger weg! Ansonsten vielleicht das unterhaltsamste Album des Genres seit langem. Die deutsche Band Leipa hat mit ihrem zweiten Album „Reue“ ein intensives Melodic-Black-Metal-Album herausgebracht, das auch mich als Genre-Skeptiker abholt. Schwedischer Heavy Metal steht für Spaß und Partystimmung. Da machen auch Screamer mit „Kingmaker“ keinen Unterschied und liefern das beste Old-School-Heavy-Metal-Album des Januars. Und zum Abschluss etwas klassischen Doom im Stile der frühen Black Sabbath. Das Debüt „The Oath“ der US-Amerikaner Lord Mountain versprüht tollen Retro-Charme.