Im Februar hat mein Musikjahr so richtig an Fahrt aufgenommen. In allen Ecken des Metal-Spektrums gab es grandiose Neuveröffentlichungen, und so dürfte in meinem neuen Newsletter für jeden Geschmack etwas dabei sein. Wie ihr merken werdet, habe auch ich eine kleine Veränderung vorgenommen. Die etwas bedeutungslose Nummerierung der einzelnen Abschnitte ist weg (was hatte ich mir dabei nochmal gedacht?), dafür gibt es kurze Überschriften, die den Inhalt etwas besser zusammenfassen. Und nun viel Spaß!
Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft?
Ich habe es schon oft erwähnt: In Flames ist die wichtigste Band meiner musikalischen Sozialisation und bis heute eine meiner Lieblingsbands überhaupt. Die Alben der schwedischen Melodic-Death-Metal-Ikonen haben mich als Teenager erst so richtig in die Welt des Metals hineingezogen. Außerdem gehört die Band – auch unabhängig von meiner persönlichen Beziehung zu ihr – zu den einflussreichsten Gruppen des modernen Metals. Gemeinsam mit At The Gates und Dark Tranquility hat In Flames den als Göteborger Sound bekannt gewordenen Melodic Death Metal in den 1990ern quasi erfunden. Das hat nicht nur ein komplettes Subgenre neu geschaffen, sondern auch den Weg für den Metalcore der frühen 2000er bereitet. Alben wie „The Jester Race“ (1996), „Colony“ (1999) oder „Clayman“ (2000) gehören zweifellos zu den wichtigsten der Metalgeschichte. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Band allerdings in eine Richtung entwickelt, die mit den Death-Metal-Ursprüngen nicht mehr allzu viel zu tun hatte. Seit nur noch Sänger Anders Fridén und Gitarrist Björn Gelotte als langjährige Mitglieder für die musikalische Richtung verantwortlich sind, haben sie ihre Musik immer weiter in Richtung Alternative Metal und Stadion Rock verschoben. Ich selbst gehöre zwar nicht zu den vielen Menschen, die diese Alben hassen, aber auch für mich kommen sie von der Qualität nicht ansatzweise an frühere Veröffentlichungen ran. Umso erstaunter war ich nun, als die ersten Vorab-Singles von „Foregone“, dem inzwischen vierzehnten Studioalbum der Band, erschienen ist und extrem nach dem Melodeath früherer Tage klang. Die große Frage, die sich die gesamte Metalwelt seitdem gestellt hat, lautete also: Schaffen es In Flames mit „Foregone“, sich auf ihre Wurzeln zu besinnen und endlich wieder ein echtes Melodic-Death-Metal-Album zu liefern?
Zwei Sachen lassen sich festhalten: Fridén, Gelotte und Co. haben die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre nicht komplett über den Haufen geschmissen: „Foregone“ ist kein reines Melodeath-Album. Trotzdem klingt die Band so wütend, aggressiv, interessant und gut wie seit 15 Jahren nicht mehr. Mit Liedern wie „Meet Your Maker“, „The Great Deceiver“ oder „State of Slay Decay” zeigen die Schweden, dass sie immer noch in der Lage sind, veritable Death-Metal-Brecher zu schreiben. Insbesondere das Gitarrenspiel von Björn Gelotte und Band-Neuzugang Chris Broderick (früher Megadeth) lässt die Herzen von Fans der 1990er höherschlagen. Die beiden haben eine unglaublich gute Chemie miteinander, und ich hoffe inständig, dass Broderick länger Teil der Band sein wird.
Insgesamt wirkt „Foregone“ in allen Belangen besser als die letzten vier, fünf Alben der Band. Die Stimme von Anders Fridén klingt so gut wie nie zuvor. Seine Harsh Vocals waren ja schon immer extrem markant, aber insbesondere sein Klargesang ist um Welten besser als in der Vergangenheit. Davon profitieren vor allem die Songs, die klar nach dem Stadion-Rock-Muster der vergangenen Jahre komponiert wurden, denn so funktionieren auch diese eher soften Lieder deutlich besser. Der größte Pluspunkt des Albums ist dabei seine Vielseitigkeit. Dadurch, dass wieder echte Melodic-Death-Songs auf der Platte zu finden sind, wirken die eingeschobenen Alternativ-Metal-Nummer nicht mehr so aufdringlich, sondern bilden einen schönen Kontrast. Am besten verdeutlichen das die beiden Titeltracks, die zwischen klassischem Göteborger Sound („Foregone Pt. 1“) und theatralischen Melodien („Foregone Pt. 2“) wechseln.
Für mich war klar, dass In Flames nie wieder so klingen werden wie auf „Clayman“ – einem meiner absoluten Lieblingsalben aller Zeiten. Aber wenn die Schweden auch in Zukunft ihre Vergangenheit so gut in ihren gegenwärtigen Sound integrieren, dann bin ich wirklich zufrieden und freue mich auf das, was kommen wird.
Eine neue Ära und doch alles beim Alten
Als die japanische Power-Metal-Band LOVEBITES vor zwei Jahren den Ausstieg ihrer Bassistin und Bandleaderin Miho bekannt gab und sich gleichzeitig in eine nicht näher definierte Pause verabschiedete, war ich etwas wehmütig. Das Quintett gehörte seit seiner Gründung 2016 zu den spektakulärsten und unterhaltsamsten jungen Power-Metal-Gruppen, die es gegenwärtig gibt. Umso erstaunter war ich, als kurz vor Weihnachten plötzlich eine neue Single veröffentlicht wurde (inklusiver Album-Ankündigkung) – so viel zum Thema Pause. Und nachdem ich „Judgement Day“ nun einige Male gehört habe, kann ich beruhigt festhalten, dass LOVEBITES den Verlust ihres kreativen Kopfs hervorragend kompensiert hat. Die zehn Songs passen sich perfekt in den Hochgeschwindigkeits-Power-Metal der ersten drei Album ein. Die fünf Musikerinnen aus Tokyo sind so unglaublich talentiert, dass sie Mihos Fehlen sozusagen spielerisch auffangen können. Es gibt aktuell keine Band des Genres, die so viel Energie und Spielfreude in ihre Musik packt. Mitreißende Soli, rasende Gitarrenriffs und Keyboard-Teppiche fliegen nur so durch die Songs und werden durch die Stimme von Sängerin Asami irgendwie zusammengehalten. Immer wieder unternimmt die Band auch Ausflüge in den klassischen Heavy Metal und entzieht sich damit vielen üblichen Power-Metal-Klischees. So wird auf die obligatorische Powerballade verzichtet – Gott sei Dank!
Wenn ich einen Kritikpunkt hätte, dann die Länge des Albums. Nur ein Lied ist kürzer als fünf Minuten und es hätte vielen der Songs gutgetan, sie etwas zu trimmen und die Platte kompakter zu gestalten. Aber ganz ehrlich, das ist meckern auf super hohem Niveau. „Judgement Day“ bietet eine durchgehende Metal-Party und ist für das eigene Energielevel sicher effektiver als jede Tasse Kaffee dieser Welt.
Mehr als nur ein One-Trick-Pony
Man kann sich leicht von der Optik täuschen lassen: Die schwedische Band Avatar wird häufig auf ihr exzentrisches Auftreten und ihre kreativen sowie chaotischen Liveshows reduziert. Den vorläufigen Höhepunkt fand das durchaus auf die Ästhetik ausgerichtete Bandkonzept im Jahr 2018, als Avatar auf ihrem Album „Avatar Country“ kurzerhand ein eigenes Königreich ausriefen, inklusive Gitarrist Jonas Jarlsby als Monarch und Sänger Johannes Eckerström als Hofnarr. Und versteht mich nicht falsch, diese Einheit von Musik und Auftreten ist ein entscheidender Punkt der Band-Identität, aber ich habe das Gefühl, dass bei all der Maskerade oft unter den Tisch fällt, was für grandiose und kreative Musiker Avatar eigentlich sind. Ihr neuntes Album „Dance Devil Dance“ (VÖ: 17.02.) wirkt nun wie eine Erinnerung, dass die Band zu den vielseitigsten der modernen Metalszene gehört. Nicht umsonst macht das Quintett selbst deutlich, welch entscheidender Rolle in ihrer Discographie das neue Werk spielt.
„Dance Devil Dance is the culmination of the most intense artistic journey of our lives. We haven't been this excited about putting out new music since our first demo, way back when. We have made a point out of treating every album like our last, never taking what we get to do for granted. This holds true for this one as well. That being said, in more ways than one, this feels like our first. We have fallen in love with the noise, the chaos, and the creation all over again.“
Und nicht nur Eckerström und Co. verlieben sich neu in den Lärm und das Chaos, sondern auch wir Hörenden werden sofort in den wilden Stilmix des Albums hineingezogen. Wenn bei Avatar eine Sache sicher ist, dann die, dass nichts sicher ist. „Dance Devil Dance“ ist das unvorhersehbarste und vielseitigste Werk in der ohnehin unglaublich kreativen Geschichte der Band. Die Schweden beherrschen dabei sowohl die kurzen, direkten Melodic-Death-Metal-Nummern wie „Hazmat Suit“ oder „Do You Feel in Control?“, schrecken aber auch nicht davor zurück, sich weit außerhalb der Grenzen des Metalgenres zu bedienen. „On The Beach“ spielt mit Ska-Elementen im Refrain, und die grandiosen, stimmungsvollen „The Dirt I’m Buried In“ und „Train“ bedienen sich beim Blues Rock und Dark Country. Selbst das herrlich alberne „Gotta Wanna Riot“ schafft es bei allem Humor, nicht den Fokus auf die Musik zu verlieren, und ist mit Sicherheit ein absolutes Highlight im nächsten Moshpit. Zum Ende machen Avatar dann auch noch ihre politische Haltung deutlich. Zusammen mit Lizzy Hale, die ich bei ihrer Stammband Halestorm selten so dreckig und druckvoll gehört habe, wird uns entgegen geschrien: „How hard can it be, after almost a century, for you bastards to agree, that no one gets to be a fucking fascist?“ Dem gibt es nichts hinzuzufügen. Avatar zeigen auf „Dance Devil Dance“ ein für alle Mal, dass sie mehr als ihre exzentrische Erscheinung sind und zu den vielseitigsten Bands des modernen Metals zählen.
Härter, größer … langweiliger?
Die US-amerikanische Band Sanguisugabogg ist ein Faszinosum. Sie wurde erst 2019 gegründet und doch ist das Quartett aus Columbus, Ohio in den letzten Jahren ziemlich durch die Decke gegangen. Sie sind Everybody’s Darling im Metal-Underground. Mit ihrem Debütalbum „Tortured Whole“ (2021) haben sie Fans und Kritiker*innen gleichermaßen begeistert. Das ist insofern besonders, da Sanguisugabogg eine Art des Death Metals spielen, die nicht direkt einsteigerfreundlich ist – den Brutal Death Metal. Es geht also alles nochmal eine Spur aggressiver, kompromissloser und härter zu als ohnehin schon im Extreme Metal. Ihr zweites Album „Homicidal Ecstasy“ (VÖ: 03.02) gehörte so folgerichtig zu den am sehnlichsten erwarteten Alben des Jahres. Ich für meinen Teil mochte das erste Album der Band besonders aus einem Grund – der herrlichen Selbstironie und Humor. Die Musik Sanguisugaboggs ist so extrem, dass es guttat, dass die Band sich selbst nicht zu ernst nahm und eine gewisse ironische Distanz zu den Klischees des Genres aufgebaut. Davon ist auf „Homicidal Ecstasy“ nicht mehr viel übriggeblieben. Musikalisch wirkt das zwar alles erwachsener, das Songwriting ist ausgefeilter und die einzelnen Musiker machen ihren Job objektiv besser, aber es fehlt diese zweite Ebene, die Sanguisugabogg von anderen Bands des Genres abgehoben hat. Nichtsdestotrotz bietet „Homicidal Ecstasy“ für alle, die nach einer ordentlichen Tracht Death-Metal-Prügel suchen, beste Unterhaltung und insbesondere Drummer Cody Davidson liefert eine exzellente Performance ab. Es gibt nicht mehr so viel zu lachen, aber dafür umso zum moshen.
Von den Mythen der schottischen Highlands
Es ist soweit! Ich nehme das erste Mal 2023 die Worte „Album des Jahres“ in den Mund. Das mag im Februar ein wenig übereilt wirken, aber was kann ich dafür, wenn mich ein Album so dermaßen aus den Socken haut, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, dass es viele gleichwertige Veröffentlichungen in diesem Jahr geben wird? Dieses Kunststück ist Hellripper gelungen, dem Ein-Mann-Projekt des Schotten James McBain. Der 27-Jährige zeigt sich dabei nicht nur für das Einspielen aller Instrumente und Vocals verantwortlichen, sondern ist auch für die Produktion und das Mixing des Albums zuständig. Bereits für die ersten beiden Alben hat Hellripper in der Szene viel Lob und Aufmerksamkeit bekommen. Diese Mischung aus Oldschool Thrash Metal mit Black Metal und den klassischen New-Wave-Of-British-Heavy-Metal-Melodien suchte bisher schon seines Gleichen. Was McBain nun aber auf seinem dritten Album „Warlocks Grim & Withered Hags“ abliefert, ist ein unfassbar Sprung nach vorne. Musikalisch klingt das Album, als hätten Metallica, Motörhead und Venom vor 40 Jahren beschlossen, in die schottischen Highlands zu fahren, um gemeinsam Musik einzuspielen. Hellrippers Kunst besteht nun darin, sich diesen Vorbildern nicht blindlings zu unterwerfen, sondern auf diesen Einflüssen aufbauend einen eigenen Sound zu kreieren. Jeder Riff geht ins Ohr, die Vocals sind dreckig und das Songwriting mal episch, mal brutal direkt. So verschwenden Lieder wie „Goat Vomit Nightmare“ oder „The Hissing Marhses“ keine Zeit, die Hörenden mit ihrer puren Energie zu packen. Die größte Entwicklung hat das Album aber in Sachen Epik. Kurz, direkt, und auf die Zwölf – das konnte Hellripper schon immer. Nun zeigt McBain aber, dass er auch ein Händchen für tiefgründigere Kompositionen hat. In Songs wie „The Nuckelavee“ (ein pferdeartiger Dämon) oder „Mester Stoor Worm“ (eine gigantische Meeresschlange) werden wir nicht nur in die Mythen und Sagen der schottischen Highlands mitgenommen, sondern bekommen auch Arrangements, die weit über das hinausgehen, was im herkömmlichen Thrash und Speed Metal so üblich ist. Am deutlichsten wird das beim Titelsong des Albums, der auf sieben Minuten alles bietet, was Metal-Fans sich wünschen können: Packende Soli, Riffs zum Niederknien und ein Refrain, der im Ohr bleibt. Dass es McBain am Ende des Songs schafft, die Gitarren mit Dudelsäcken um die Wette spielen zu lassen, ohne dass das auch nur eine Sekunde albern wirkt oder etwas von der Härte des Sounds wegnimmt, beweist, was für ein Gespür für Songwriting der Schotte hat.
Lange Rede, kurzer Sinn: „Warlocks Grim & Withered Hags“ ist für mich ein perfektes Album, an dem ich nichts ändern würde, und damit auch das Album, das es 2023 zu schlagen gilt.
Mach, worauf du Bock hast!
Bereits im Januar ist das erste Album der Mexikaner Freeroad erschienen – und wie es inzwischen gute Tradition am Ende meines Newsletters ist, handelt es sich dabei um eine klassische Heavy-Metal-Scheibe. „Do What You Feel“ hat den perfekten Laid-Back-Vibe, der nach den ganze intensiven Alben in dieser Ausgabe genau das Richtige zum Abschalten ist. Frei nach dem Motto „Entspann‘ dich und mach einfach, worauf du Lust hast“ liefert das Quartett Old School Heavy Metal, zu dem man alle seine Sorgen vergessen kann. Wenn ihr eine Vorstellung davon bekommen wollt, wie das Album klingt, reicht ein Blick auf das Cover. Dort präsentiert uns ein nackter Mann seinen Hintern und hüpft in den Sonnenuntergang – manchmal ist eben einfach alles egal.
Und hier einige weitere Alben, die ich im Februar mochte
Stellt euch vor, der Melodic Death Metal wäre nicht in Schweden, sondern in Florida erfunden worden. Genau so klingt das Debütalbum „Spiritual Disease“ der dominikanischen Band Soul of Death, das alle Trademarks des klassischen Floridian Death Metals mit dem Göteborger Stil kombiniert - quasi Cannibal Corpse meets At The Gates. Ein super Party-Album haben die Kanadier von Lüger veröffentlicht. Auf „Revelations oft he Sacred Skull“ verbindet die Band alles, was am Heavy Metal und der First Wave of Black Metal in den 1980er so super war, auch eine unbedingte Empfehlung für alle Motörhead-Fans! Ein erstes Highlight im Bereich des Technical Death Metals kam im Februar aus Schweden. „Visions of Infinihility“ von Carnosus bietet alles, was sich das Death-Metal-Herz wünscht und wird mit einer guten Portion Thrash abgerundet.