Es gab an Kuriositäten, Besonderheiten oder Neuigkeiten gar nicht so wirklich viel, weswegen ich mich in meinem vierten Newsletter einzig und allein der Musik widmen kann. Was auch gut so ist, denn der Monat war gespickt mit einigen Alben, die definitiv zu meinen Favoriten 2021 zählen werden. Also viel Spaß und, wie immer, danke für die netten Worte und die Unterstützung.
1 & 2
Fortitude (VÖ: 30.04.), das siebte Studioalbum der französischen Progressive Death Metal Band Gojira, gehört zu den am sehnsüchtigsten erwarteten Metal-Alben des Jahres. Nicht nur von mir persönlich, sondern von der gesamten Szene. Ihr werdet kein Magazin, keine Webseite, keinen Youtube-Channel oder Podcast finden, der sich in irgendeiner Form mit Metal auseinandersetzt und kein Special zu dieser Veröffentlichung hat. Wo die großen Superstars des Metals im Spätherbst ihrer Karrieren sind (Metallica, Iron Maiden, Judas Priest) oder diese in den letzten Jahren beendet haben (Slayer) und es die Nu-Metal Größen der frühen 2000er nicht geschafft haben, diese Plätze einzunehmen (mit Ausnahme von Slipknot vielleicht), gibt es eine neue Generation an Bands, die sich anschicken zu globalen Megastars der Szene zu werden. Ganz vorne in der Reihe dieser Bands steht Gojira. (Umso erstaunlicher, dass es meines Wissens nach kein deutsches Feuilleton geschafft hat, etwas über dieses Album zu schreiben, im Gegensatz zum britischen Guardian und diesem schönen Text.)
Das Quartett um die Brüder Joe (Gitarre, Gesang) und Mario Duplantier (Schlagzeug), Christian Andreu (Gitarre) und Jean-Michel Labadie (Bass), hat etwas geschafft, das nur einer Handvoll anderer Bands gelungen ist – einen Sound zu kreieren, der einzig und allein ihrer ist. Es ist schwierig zu erklären, aber man erkennt das typische Rhythmus-fixierte und progressive Gojira-Riffing und Drumming sofort. Seit ihrem Debüt 2001 hat die Band nicht nur einige meiner Lieblingsalben aller Zeiten veröffentlicht, sondern mit From Mars to Sirius (2005) und L’enfant Sauvage (2012) moderne Metal-Klassiker geschrieben. Es war aber ihr letztes Album Magma (2016), auf dem die Brüder Duplantier den Tod ihrer Mutter verarbeiteten, welches sie auf eine neue Popularitäts-Stufe gehoben hat (inklusive zweier Grammy Nominierungen). Der progressive und technische Death Metal ihrer ersten Alben wurde sanfter und in gewisser Weise emotionaler, ohne seine rohe Intensität einzubüßen. Fortitude ist einerseits eine logische Weiterentwicklung, andererseits wird die introspektive Emotionalität eines persönlichen Verlusts, gegen offene Verzweiflung und Wut über den Zustand der Welt eingetauscht (wobei sich beides in einigen Momenten hörbar berührt). Einige Metal Puristen werden diese Zugänglichkeit zwar, wie schon bei Magma, wieder kritisieren, aber Gojira geben wenig auf diese äußere Erwartungshaltung. Sie loten vielmehr aus, wo die Grenzen ihres eigenen Sounds liegen. Alles das, was sie in den letzten zwanzig Jahren ausgemacht hat, bringen die Franzosen in der zweiten Vorab-Single Born For One Thing nahe an die Perfektion.
Was neben dem musikalischen Talent das Außergewöhnliche an Gojira ist, ist ihre Haltung. Schon das bereits angesprochene From Mars to Sirius von 2005 war ein Konzeptalbum über einen sterbenden Planeten, der durch den Klimawandel zerstört wird (inklusive eines Songs, der mit Walgesang beginnt: Flying Whales). Auch wenn sie sich auf ihren letzten drei Alben anderen Themen gewidmet haben, hat sich ihr Einsatz gegen den Klimawandel und die Zerstörung des Planeten durch den Menschen nie geändert. Dass sie es ernst mit ihrem Engagement meinen, zeigt der Song Amazonia vom neuen Album. So gehen alle Einkünfte dieses Songs an Projekte zum Schutz des Amazonas-Regenwalds und zur Unterstützung der indigenen Völker, die dort leben (hier in einem kurzen Arte-Beitrag schön zusammengefasst). Musikalisch zeigt das Lied alles, was das Album so herausragend macht: von den Einflüssen indigener, hier brasilianischer Musik, über die stampfende, vom eigenen Rhythmus getriebene Strophe, bis hin zum fast schon verzweifelten Refrain:
There's fire in the sky / You're in the Amazon / The greatest miracle / Is burning to the ground.
(Amazonia)
„Mein politisches Bewusstsein ist geprägt von zivilem Ungehorsam. Wenn Gesetze ungerecht oder unfair sind, dann müssen wir sie brechen. Wenn etwas falsch läuft, dann müssen wir auf die Straße und unsere Stimmen erheben. Viele der Songs [auf Fortitude] verkörpern diese „Propaganda“ des zivilen Ungehorsams “ (Joe Duplantier, hier)
Fortitude ist politisch. Es ist Anklage (Amazonia), Weckruf (Into the Storm), verzweifelte Aufforderung zum Kampf (Hold on) und Elegie (The Trails) in einem. Wenn der Satz, das ist ein Album unserer Zeit, jemals gepasst hat, dann hier. Wer mich kennt weiß, dass ich gerne enthusiastisch bin, dass ich mich von Sachen leicht mitreißen lassen kann. Aber mit aller mir zur Verfügung stehender Objektivität (was nicht so viel ist, zugegeben) glaube ich fest, dass dieses Album nicht nur ein Highlight in Gojiras Diskografie sein wird. Fortitude steht für alles, was Metal ausmachen sollte: es prangert Ungerechtigkeiten an und ist ein Ventil diese zu verarbeiten; ist hart aber bietet Raum für Emotionalität.
Let this chant ring in your bones and lift you up
(The Chant)
3
Habt ihr euch auch schon immer gefragt, wie es wohl klingen würde, wenn Korn, Linkin Park und Slipknot gemeinsam ein Kind großziehen würden, das dann Musik macht? Ja? Dann habe ich in Form von Tetrarch die Antwort für euch. Das Quartett aus Atlanta, USA, lebt auf ihrem neuen Album Unstable (VÖ: 30.04.) diesen Sound der frühen 2000er Jahre, schafft es aber zugleich, sich davon zu emanzipieren. Das liegt vor allem an Sänger und Gitarrist Josh Fore, der in einigen Momenten wie eine Mischung aus Jonathan Davis (Korn) und Chester Bennington (Linkin Park) klingt und an Gitarristin Diamond Rowe. Beide schaffen es, ihrer Musik eine Energie mitzugeben, die ich seit Ewigkeiten von keiner Nu- oder Modern Metal Band mehr gehört habe. Und weil Schwarze Musikerinnen immer noch zu wenig Aufmerksamkeit in der Metal Welt bekommen, möchte ich die Chance nutzen, Diamond Rowe einfach noch etwas abzufeiern. Wie es ihr gelingt, Songs zu schreiben, die so ins Ohr gehen und dabei so viel Emotionalität mitbringen ist beeindruckend. Das beste Beispiel dafür ist I’m Not Right. Wäre die Nummer 2000 erschienen, ich verspreche euch, wir würden heute „Something's missing, I'm not right“ auf Partys grölen anstatt „Cut my life into pieces, this is my Last Resort!“. Tetrarch erfinden das Rad hier sicher nicht neu, aber mit ihrem Gespür für Hits und ihrer Energie werden sie eine ganze Reihe jüngerer Fans für sich und Metal als Ganzes gewinnen, davon bin ich überzeugt. Und wer weiß, vielleicht hat Linkin Parks Mike Shinoda doch recht, wenn er sagt: Nu-Metal went from being corny to the coolest thing again.
4
Was muss passieren, damit ich hier die Debüt-Single einer Band vorstelle? Naja, dazu braucht es die ehemaligen Nervosa Mitglieder Fernanda Lira (Sängerin & Bass) und Luana Dametto (Schlagzeug), dann gibt man die Ex-Burning Witches Gitarristin Sonia Anubis hinzu und rundet das Ganze mit Tainà Bergamaschi (Gitarre) ab und lässt das Quartett eine Death Metal Band gründen. Et voila – Crypta! 250.000 Klicks in einer Woche für das Youtube Video zu From The Ashes (die angesprochene erste Single von Crypta), sind ein deutliches Indiz, das ich mit dem Hype, der nach der Trennung des ursprünglichen Nervosa Line-Ups (siehe Januar) um beide Bands aufkam, nicht allein bin. Schuld daran sind zum einen natürlich die prominenten Mitglieder, zum anderen aber auch das unglaubliche Talent der Gruppe. Der Death Metal des Niederländisch-Brasilianischen Quartetts fügt das Beste aus der Vergangenheit der einzelnen Musikerinnen zusammen. Die unverkennbare Liebe für gute Rhythmen, die Nervosa ausgemacht hat, die herausragende Stimme von Lira (die besser klingt als je zuvor) und das Gespür für eingängige Melodien, die den Heavy Metal von Burning Witches so catchy macht. From The Ashes ist ein Death Metal Ohrwurm wie er im Buche steht. Der sich in die Gehörgänge fräst, ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dafür einen Funken an Härte einzubüßen (und erinnert mich phasenweise an At The Gates in Bestform, die am 30.4. ebenfalls eine neue Single veröffentlicht haben). Das Debütalbum Echoes Of The Soul erscheint am 11. 06. und ihr könnt euch darauf verlassen, dass ich im Juni-Newsletter dann das Album genauso abfeiern werde, wie jetzt die Single.
5
Es gibt vier Buchstaben, die jeden Metal-Nerd hellhörig werden lassen: AOTY. Was für Football-Fans der Super Bowl ist, ist für viele Metal-Fans die Diskussion um das Album des Jahres (Album of the year, oder eben einfach AOTY), die sich zwangsläufig zum Ende jedes Jahres auf sämtlichen Plattformen einstellt. Wenn ein Album als AOTY-Kandidat betitelt wird, dann bedeutet das in der Ranking-liebenden Metal-Community schon etwas. Also aufgepasst: das dritte Album des US-Amerikanischen Trios Bewticher Cursed Be Thy Kingdom ist für mich ein absoluter AOTY-Contender (VÖ: 16.04.). Ich habe wirklich lange keine Platte gehört, die so unfassbar unterhaltsam, cool und voll mit guten Riffs und catchy Refrains ist, wie diese hier. Bewtichers Sound zieht seine Energie direkt aus den 1980ern und transportiert die frühen Alben von Venom oder Motörhead ins 21. Jahrhundert. Das ist gut geschriebener und herausragend produzierter Heavy und Speed Metal mit ein bisschen First Wave of Black Metal Anstrich und einer guten Portion Rock’n‘Roll. Im Vergleich zu den beiden Vorgängern dreht das Trio um Sänger Matt Litton (aka Unholy Weaver Of Shadows & Incantations, was für ein Künstlername) die Geschwindigkeit etwas runter und dafür die Eingängigkeit deutlich hoch – ohne dabei an Rohheit oder Authentizität einzubüßen. Satanic Magic Attack oder Metal Burner sind absolute Party Kracher, wie sie in den letzten Jahren kaum eine Band geschrieben hat und Valley of the Ravens (das Solo!) oder Widow’s Blade zeigen, dass Litton auch zu den besten Songwriter*innen des modernen Heavy Metals gehört. Dieses Album hat keinen schlechten, oder auch nur langweiligen Song und ist genau das, was ich in dem aktuellen Pandemie-Frühling brauche, um trotz des ganzen Mists um uns herum gute Laune zu bekommen.
6 & 7
Ich weiß nicht, ob es an der politischen Unsicherheit durch den Brexit liegt, oder einfach an der traditionell lebhaften Underground-Musik-Szene Großbritanniens, aber von der Insel kommen in den letzten Jahren einige der aufregendsten Extreme Metal Bands. Auch 2021 liefert das Vereinigte Königreich eine Reihe hochspannender Alben ab. Zum einen hätten wir da das Debüt Mirrors des Londoner Trios PUPIL SLICER (VÖ: 12.03.). Ihre Mischung aus Grind- und Hardcore, Noise (ja, es gibt eine Musikrichtung, die literally »Lärm« heißt) und Post-Metal ist so chaotisch, aggressiv und unzugänglich, dass es selbst mich ab und an überfordert. Wem verzerrte Gitarren also allein schon zu viel sind, der oder die wird mit diesem Album nicht glücklich. Dennoch haben PUPIL SLICER eine eigenartig kathartische Wirkung auf mich (wenn ich zum Beispiel an der Welt um mich herum verzweifle, nachdem, sagen wir, 50 deutsche Schauspieler*innen die Corona-Politik satirisch kritisieren). In diesen Momenten ist der kompromisslose Sound der Band um Sängerin und Gitarristin Kate Davies ein perfektes Ventil. Sicherlich nichts für schwache Nerven, aber eines der unkonventionellsten und innovativsten Alben, die ich dieses Jahr gehört habe.
Etwas leichter zugänglich (sofern man bei einer Black’n‘Death Metal Band von Zugänglichkeit reden kann) ist das dritte Album Burn in Many Mirrors (Ha! Schon wieder »Spiegel« im Titel: ein Muster) des Manchester Quartetts Wode. Normalerweise langweilt mich Black Metal ja recht schnell, aber Wode schaffen es, mich permanent bei der Stange zu halten. Das liegt vor allem an den grandiosen Gitarrenspiel von Michael Czerwoniuk und Daniel Shaw. In Songs wie Lunar Madness oder Serpent’s Coil reihen sich unzählige tolle Riffs aneinander, die auch eine Nähe zum klassischen Heavy Metal nicht verhehlen können. Und dann ist da noch das grandiose Rapture (I, II, III) zum Abschluss: mit seinem John Carpenter-esken Intro verleiht es der gesamten Platte eine weitere Facette und beendet das Album mit einem absoluten Highlight.
Wenn ihr also mal wieder eine Wut in euch spürt und nicht wisst, wohin damit, dann kann ich einen Ausflug in die Welten dieser beiden Alben nur empfehlen.
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Wisst ihr noch, ihr geht auf ein Konzert, freut euch auf den Hauptact und dann seht ihr plötzlich eine Vorband, die ihr gar nicht kanntet, und seid völlig von den Socken? Das letzte Mal ging es mir Ende 2019 so, als ich wegen Opeth nach Berlin gefahren bin, dort aber vom isländischen Retro-Rock Trio The Vintage Caravan umgehauen wurde. Dementsprechend groß war meine Vorfreude auf das neue, vierte Album Monuments (VÖ: 16.04.) – und ich wurde definitiv nicht enttäuscht. The Vintage Caravan haben einen Weg gefunden, den Sound ihrer Vorbilder aus den 1970er in die Gegenwart zu transportieren. Man hört hier und da Jimi Hendrix oder Jefferson Airplane Inspirationen, aber diese verkommen eben nie zu bloßen Kopien. Crystallized (mit einem fantastischen Video garniert!), Hell oder Dark Times sind Psychedelic-Rock Nummern der Extraklasse. In der Flut an Retro-Rock Bands gehören die Isländer zum Besten der Besten und brauchen den Vergleich mit den Grammy-Gewinnern Greta Van Fleet nicht scheuen (deren neues Album am selben Tag herauskam und mich im Vergleich nur mit einem Schulterzucken zurückgelassen hat). Wer spätestens bei der herzzerreißenden Ballade This One’s for You nicht schwach wird, naja, denjenigen ist sowieso nicht mehr zu helfen.
9
Zum letzten Mal dürfen wir neuem Material des im Dezember 2020 verstorbenen finnischen Gitarristen und Sängers Alexi Laiho lauschen. Am 23. April wurde die EP Paint The Sky in Blood der Children of Bodom Nachfolgeband Bodom After Midnight veröffentlicht. Zwei neue Songs zeigen ein letztes Mal das Gespür für grandiose Riffs und Melodien, das Laiho besaß. Dass die EP mit dem Dissection-Cover Where Dead Angels Lies und der Textzeile „The angel's heart froze to ice // In the gloomy sky - the silence where dead angels lie“ abschließt, ist dann irgendwie auch ein angemessenes Ende einer großen Karriere. Es wird die erste und letzte Veröffentlichung von Bodom After Midnight bleiben und ist ein letztes, würdiges Hurra! eines der besten und einflussreichsten Metal-Musikers aller Zeiten. Ruhe in Frieden Alexi.
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Zum Abschluss ein paar weitere Alben die ich diesen Monat mochte:
Cannibal Corpse – Violence Unimagined (Death Metal VÖ: 16.04.)
The Lion’s Daughter – Skin Show (Synth Metal, VÖ:09.04.)
Ildaruni – Beyond Unseen Gateways (Folk & Black Metal, VÖ: 19.03.)
The Devils – Beast Must Regret Nothing (Stoner Rock, VÖ: 23.04.)
Endseeker – Mount Carcass (Death Metal, VÖ: 16.04.)